Freie Fahrt für freie Katalanen

Hunderttausende haben in Barcelona gegen das fortwährende Chaos bei den Nahverkehrszügen demonstriert. Die Lösung hatten sie auch gleich parat: Unabhängigkeit. Drei Monate vor den Parlamentswahlen spitzt sich der Separatismuskon­flikt erneut zu. von thorsten mense

Die spanischen Konservativen sind sauer: »Sie nutzen die Wut und Empörung der Leute aus, um gegen Spanien zu demonstrieren« erklärte vergangene Woche Daniel Sirera, der Vorsitzende des katalanischen Ablegers der konservativen Volkspartei (Partido Popular, PP). Am 1. Dezember waren in Barcelona mehrere hunderttausend Menschen auf die Straße gegangen. Der Grund der De­monstration war das seit mehreren Monaten andauernde Chaos in den Nahverkehrszügen der Region Barcelona. Verspätungen um viele Stunden und komplette Ausfälle mancher Teilstrecken gehörten in letzter Zeit zur Normalität. 160 000 Reisende mussten täglich auf Ersatzbusse und die Metro umsteigen. Erst am vergangenen Wochenende wurden die Strecken wieder in Betrieb genommen. Mit ungewohnter Einigkeit fordern alle Parteien, bis auf die sozialdemokratische Regierungspartei Psoe, den Rücktritt von Verkehrsministerin Magdalena Álvarez, bisher ohne Erfolg.

Gründe gibt es also genug, gegen den Zustand des Nahverkehrsnetzes und das Versagen der Politik zu demonstrieren. Allerdings ist die Verwaltung der Bahnstrecken zentral geregelt, das heißt, sie obliegt der Regierung in Madrid. Aus diesem Grund ist für viele politische Akteure in Katalonien klar, wo das eigentliche Problem liegt: in der fehlenden Unabhängigkeit. Das Motto der Demonstration machte deutlich, dass es einmal mehr um nationalistische Befindlichkeiten ging: »Wir sind eine Nation und sagen, dass es reicht. Wir haben das Recht, über unsere Infrastrukturen zu entscheiden.« Die independencia gilt als Lö­sung für alle Probleme.

Wegen des großen Erfolgs der Demonstration – die Polizei sprach von 200 000 Teilnehmern, wäh­rend die Veranstalter 700 000 gezählt haben – fühlt sich die Esquerra Independentista, die linke Unabhängigkeitsbewegung, in ihrem Kampf für ein unabhängiges Katalonien bestätigt. Manche sprachen sogar von der »größten Demonstration für die Unabhängigkeit in der Geschichte Kataloniens«.

Die verschiedenen Gruppen der katalanischen Gesellschaft haben schon lange nicht mehr mit solch einer Freimütigkeit die Unabhängigkeit gefordert. Abgesehen von dem PSC, dem katalanischen Ableger der Regierungspartei Psoe, dem rechtskonservativen PP und der kleinen anti-separatistischen Wählervereinigung Ciutadans haben alle Parteien aus dem katalanischen Parlament an der Demonstration teilgenommen, die von den Flaggen und Parolen der independentistas gekennzeichnet war.

Drei Monate vor den Parlamentswahlen in Spa­nien verhärten sich die Fronten zwischen Zen­trum und Peripherie. Bereits zum katalanischen Unabhängigkeitstag am 11. September hatten die beiden ehemaligen Präsidenten der Regional­regie­rung, Jordi Pujol und Pasqual Maragall, über­ra­schend klare Worte gesprochen. Maragall (PSC) ließ keinen Zweifel daran, dass Katalonien irgend­wann als »Nation anerkannt wird, und zwar nicht nur im Vorwort seines Statuts, sondern in der Ver­fassung seines eigenen Staates«. Pujol von der konservativen Partei CiU nutzte die Gelegenheit, die auch unter Linken weit verbreiteten völkischen Mythen wieder auszupacken: »Katalonien ist nicht das Ergebnis irgendeiner Verfassung, sondern es kommt von sehr weit her, von etwas viel Tiefgründigerem.« Der Vizepräsident der Region, Josep-Lluís Carod-Rovira von der Republikanischen Linken Kataloniens, ERC, hatte bereits kurz zuvor seinen Zeitplan vorgestellt: Er will im Jahr 2014 die Bevölkerung in einem Referendum über die Unabhängigkeit abstimmen lassen.

Es nahmen nicht zuletzt deswegen so viele an der Demonstration teil, weil es gelungen ist, soziale und nationalistische Anliegen miteinander zu ver­knüpfen. Die Verbindung und Vermischung linker, sozialer und nationalistischer Bewegungen ist historisch gesehen einer der Hauptgründe für die Entstehung des katalanischen Nationalismus als Massenphänomen. Dass ein Thema, das jeden Morgen Hunderttausende Arbeiter und Studenten direkt betrifft, sich gut dafür eignet, die Massen zum Protest aufzurufen, hatte die Linke schon bemerkt, bevor sich die großen Parteien dessen angenommen haben.

Bereits im Manifest der linken Kampagne »300 Jahre der Besatzung, 300 Jahre des Widerstands«, die Anfang des Jahres ins Leben gerufen wurde, musste die Vernachlässigung der regionalen Schie­nennetze als Beweis für die koloniale Unterdrückung Kataloniens durch Spanien herhalten. Dass nun auch gemäßigte Nationalisten und konserva­tive katalanische Parteien wie die CiU wieder stär­ker auf den Nationalismus setzen, bringt den der­zeitigen Präsidenten Kataloniens, José Montil­la (PSC), in Bedrängnis, der es sich weder mit seiner Schwesterpartei Psoe noch mit seinen Koalitions­partnern im Regionalparlament verscherzen will. So antwortete er auf die Frage, was er denn von den Forderungen nach Unabhängigkeit halte, un­bestimmt: »Katalonien wird das sein, was seine Bürger heute und in Zukunft entscheiden.«

Ein weiterer Grund für den nationalistischen Aufschwung liegt wahrscheinlich auch im Verhalten der Zentralmacht. Im November wurden zwei junge Katalanen, die öffentlich Fotos des Königs verbrannt hatten, zu Geldstrafen von jeweils über 2 000 Euro verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte zu Beginn sogar 15 Monate Haft gefordert, was in vielen Regionen zu Kundgebungen gegen die Monarchie führte. Dazu kommt die Eskalation des Konflikts um die baskische Region. Nachdem Anfang Oktober die gesamte Führung der verbotenen Partei Batasuna verhaftet worden war, wurden vergangene Woche die ersten Haftbefehle des bereits seit 1998 laufenden Massenprozesses »18/98« gegen Angehörige verschiedener sozialer und linker Bewegungen vollstreckt, denen aufgrund sehr dürftiger Indizien die Unterstützung der Eta vorgeworfen wird. Gegen diese Verhaftungen gingen einen Tag nach der Demonstration in Barcelona im baskischen Bilbao mehrere zehntausend Menschen auf die Straße.

Von Günter Grass kam neulich ein Vorschlag ganz anderer Art: Er schloss sich der Idee des por­tugiesischen Schriftstellers José Saramago an, Por­tugal mit Spanien zu vereinen, da ein großer iberischer Staat in der EU viel mehr Gewicht hätte. Sollte sich das herumsprechen, wäre Grass gut beraten, in Zukunft keine Lesungen mehr in Katalonien abzuhalten.