Erst wählen, dann essen

Die Demokratisierung kann zu gewalttätigen Machtkämpfen führen, wenn es keine Organisationen gibt, die gemeinsame soziale Interessen vertreten. von jörn schulz

In vielen Städten brannten die Barrikaden, die Polizei schoss mit Tränengas auf Demonstranten. Auch in Guinea wurde in der vergangenen Woche protestiert. Doch während in Kenia Banden die Angehörigen anderer Bevölkerungsgruppen angreifen, werden die Proteste in Guinea von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen geführt. Mit Generalstreiks und Demonstrationen zwangen sie im vergangenen Jahr Präsident Lansana Conté zu einem Abkommen, er musste viele Macht­befugnisse abtreten und oppositionelle Minister in die Regierung aufnehmen. Am Mittwoch der vergangenen Woche entließ Conté den Kommunikationsminister Justin Morel Junior. In dieser Woche soll ein Generalstreik den Präsidenten zwingen, sich wieder an die Vereinbarungen mit der Opposition zu halten.

Auch in Guinea gibt es »Stämme«, doch scheint es Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu gelingen, die Opposition unter gemeinsamen Forderungen zu vereinigen. In noch immer schwach institutionalisierten afrikanischen Staaten wie Guinea stehen den Bauern, etwa drei Viertel der Bevölkerung, und den Massen der städtischen Armen nur kleine Mittelschichten und relativ wenige Proletarier gegen­über. Von der Orientierung der Mittelschichten und Gewerkschafter sowie ihrer Fähigkeit, die marginalisierte Bevölkerungsmehrheit zu integrieren, hängt ab, wie der Kampf um die Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen ausgetragen wird.

Die Demokratisierung begann in Afrika meist mit der Schwächung des Herrschers, der die Kontrolle über die Gesellschaft verlor. Es gibt kaum noch unumschränkt herrschende Diktatoren, allein im vergangenen Jahr wurde in 18 Staaten des Kontinents gewählt. Nicht alle Wahlen waren frei, neben schlichtem Betrug wenden viele Regierungen, aber auch Oppositionsparteien, andere Manipulationsmethoden an, die Anlass für gewalttätige Konflikte sein können. Sie versprechen ihren Wählern eine Belohnung auf Kosten anderer. Das wird nur selten offen gesagt. Es genügt, wenn etwa Odingas ODM den Slogan »Nun sind wir beim Essen dran« verbreitet, damit alle wissen, dass nun nicht mehr die Gikuyu, sondern die Luo und ihre Verbündeten mit guten Jobs und anderen staatlichen Wohltaten bedacht werden sollen.

Mit einer Dikatur zerfällt auch das sorgfältig geknüpfte Netz des Klientelismus. Wo einst der Herrscher seinen Willen auch gegen konkurrierende Oligarchen durchsetzen konnte, gewinnen nun Lokalpolitiker und Provinzfürsten an Einfluss, die miteinander konkurrieren. Um eine Klientel an sich zu binden, nutzen sie die berechtigte Anspruchshaltung der Bevölkerung. Auch der institutionell demokratisierte Staat tritt der Bevölkerung meist als Räuber gegenüber. Polizisten fordern Geld, bevor sie den Minibus passieren lassen, Beamte wollen belohnt werden, wenn sie ein Dokument ausstellen, und Lehrer erwarten vor den Prüfungen Geschenke von ihren Schülern. Dementsprechend fordernd tritt die Bevölkerung dem Staat gegenüber, die Menschen wollen möglichst viel von dem zurückhaben, was sie hergeben mussten.

Von ihren Abgeordneten erwarten sie, einen möglichst großen Teil des Staatsbudgets für ihren Wahlkreis zu ergattern, denn sie interessiert nicht die nationale Infrastruktur, sondern der Bau der Straße, die es ihnen ermöglicht, ihre Produkte im nächsten Marktort zu verkaufen. Wer sich in einem klientelistischen Staat wie Kenia diesem System verweigert, kann sich in der Politik nicht halten.

Die Grundlage der Klientelbildung ist zumeist der Appell an die Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe, doch der Tribalismus ist eine recht moderne Angelegenheit. Vorurteile wie die über die »gierigen« Kikuyu und die »faulen« Luo in Kenia halten sich zwar auch unter der städtischen Bevölkerung. Doch die traditionellen Stammesstrukturen sind längst zerfallen. Wenn den Kindern die alten Rituale noch beigebracht werden, ist das eher Folklore und Disziplinierung, so wie konservative Eltern im Westen ihre Kinder zum Beten anhalten, auch wenn sie selbst nicht an Gott glauben.

Verlässt das Kind die Schule oder die Universität, gewinnt die Stammeszugehörigkeit jedoch existienzielle Bedeutung bei der Jobsuche. Die kenianische Tageszeitung East African Standard berichtete regelmäßig über »Tribalismus in der Regierung« und »Vetternwirtschaft«, nun in »zügellosem Wettbewerb«, anders als unter dem Autokraten Daniel arap Moi, dessen »System der Patronage« zentralisiert war. Mit nationalistischen Appellen dürfte diesem Wettbewerb nicht beizukommen sein. Denn jene, die sich nun ihrer gemeinsamen Nationalität erinnern sollen, fragen nicht zu unrecht, wer denn von den sechs Prozent jährlichem Wirtschaftswachstum profitiert hat, das die Regierung so stolz preist.

Hilfreich kann die städtische Jugendkultur sein. Viele kenianische Jugendliche bedienen sich eines gemeinsamen Slangs, des vor allem aus Englisch und Swahili zusammengesetzten Sheng und finden den Tribalismus shamba (bäuerlich, alt­modisch). Aber auch sie brauchen irgendwann einen Job und müssen sich anpassen, wenn die Verhältnisse sich nicht ändern. Nur Organisationen, die gemeinsame soziale Interessen vertreten, können einen Wandel bewirken. Daran fehlt es in Kenia. Der Panafrikanismus ist derzeit eher eine diffuse identitäre Ideologie als eine Bewegung, die den Austausch der Erfahrungen aus sozialen Kämpfen ermöglichen würde. Doch vielleicht schauen manche Kenianer in dieser Woche nach Guinea, wo die Menschen versuchen werden, ihren Präsidenten in die Schranken zu weisen, ohne einander abzuschlachten.