Jenseits der Kathedralen

Die Wahrnehmung der 68er-Bewegung ist bei vielen Beteiligten des Diskurses stark von ihrer persönlichen Wahrnehmung jener Zeit geprägt. Theorie und Analyse brauchen jedoch nicht nur den Blick auf die eigene Geschichte, sondern auch das Bewusstsein um jenen Blick. von cord riechelmann

Mein erster erinnerlicher Eindruck von »68« war ein Foto im Burgdorfer Kreisblatt. Darauf zu sehen waren zwei sehr dunkle Menschen, die ihre in schwarzen Handschuhen steckenden Fäuste in den mexikanischen Himmel streckten und ihren Kopf gesenkt hatten, so dass ihr Kinn auf der Brust lag. Es waren Tommie Smith und John Carlos, der Erste und der Dritte des 200-Meter-Endlaufs der olympischen Spiele von Mexiko-Stadt, zwei Afroamerikaner, die mit dieser Geste gegen das Land demonstrierten, für das sie gesiegt hatten, die USA. Das Bild wirkte auf mich ungeheuer fremd und ungeheuer anziehend zugleich. Es wurde das erste Foto, das ich aus einer Zeit­ung ausschnitt und versteckt aufbewahrte.

Das hätte wahrscheinlich schon gereicht, um mir das Bild für immer einzuprägen. Ich war acht Jahre alt und ging in die zweite Klasse einer Dorfschule im ehemaligen Gau Osthannover. Das Bild muss aber unseren Dorfschullehrer ebenso beeindruckt haben. Der donnerte nämlich am nächs­ten Morgen eine ganze Stunde auf uns ein und meinte, dass wir, wenn das so weitergehe, bald wieder auf den Bäumen leben würden und dass es in dieser Lage jetzt sehr zu begrüßen sei, dass sie in Prag mit »den Buschmännern und ihrem Hula-Hula-Tschinderassa aufräumen« würden. Der ganze Vortrag war einerseits bedrohlich, die Prügelstrafe in der Schule war damals noch der Normalfall, andererseits aber auch verlockend geheimnisvoll. Ich wusste damals nämlich weder, wo Prag lag, noch was Buschmänner waren, nur dass der Lehrer häufig in lockeren Momenten von der Schönheit des Landes um Prag erzählt hatte, von wo er von »Kommunisten« – auch darunter konnte ich mir nichts vorstellen – vertrieben worden war.

Persönlich blieben in den Jahren danach 200-Meter-Läufer mit schwarzen Handschuhen, Busch­männer, das Leben auf den Bäumen und Prag, als ferner, irgendwie aufregender Ort, die einzigen Bilder, die mit dem, was man heute »68« nennt, in Verbindung standen. Alles, was für einen selbst wichtig war – »Willy wählen« 1972, das erste aus der Post gestohlene Fahndungsplakat der »Baader-Meinhof-Bande«, die Gründung einer undogmatischen sozialistischen Schülergruppe 1977, lackier­te Fingernägel und der ewige Kajalstift, der in den Augen so brannte –, war schon gegen diese Typen gerichtet, die einen immer zuerst fragten, ob man sich den Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft als demokratischen oder revolutionären Akt vorstellte. Man betrachtete diese Typen mit verhaltener Sym­pathie, hielt sie aber eigentlich für Volltrottel, deren Körper einem unangenehm waren. Die redeten – und wichtiger: schrieben – genauso behämmert und verstockt, wie sie sich bewegten. Ihre Texte erreichten nie den Ton, den man bei Kafka, Arno Schmidt oder Brecht gefunden hatte.

Die Arroganz gegenüber den Texten der Älteren änderte sich schlagartig 1978/79, als mir ein älterer Freund Hans Jürgen Krahls »Konstitution und Klassenkampf« sowie Bernward Vespers »Die Reise« schenkte. In Krahls »Angaben zur Person«, die das Buch »Konstitution und Klassenkampf« ein­leiten, fand sich eine Verschränkung von Denken und Autobiographie, die noch »in der primitivsten Parole die Funken philosophischen Denkens am Glimmen zu halten« versuchte, wie Klaus Theweleit sehr viel später über Krahl schreiben würde.

Das war tausendmal besser als der nur schön schreibende Adorno, dessen kathedralenhaft geschwungene Sätze einen immer auch abschreck­ten, weil sie einem das Gefühl vermittelten, dass der schon mit 15 wusste, was großartig war und wie man das in Worte gießt, während man selbst mit 18 noch nicht mal Alban Berg kannte. Und es hatte überhaupt nichts vom Theorielehrer-Kontrollton, der die Texte von Jürgen Habermas durch­zog. Krahls »Angaben zur Person«, die er frei oh­ne Konzept in einem Prozess 1968 vortrug, in dem er zusammen mit Günter Amendt und K.D. Wolff wegen Rädelsführerei angeklagt war, lieferten ein Modell für den Umgang mit Theorie im Blick auf die eigene Geschichte. Dabei war es natürlich nicht unwichtig, dass er aus dem erweiterten Gau Osthannover kam und ein Milieu geschildert hatte, das 1978/79 immer noch das war, in dem ich aufgewachsen war.

Das gleiche galt für Vespers »Reise«. Im Porträt seines Vaters hatte er den Typus des nationalsozialistischen niedersächsischen Herrenmenschen beschrieben, der nicht an Bergen-Belsen vorbeifahren konnte, ohne sich in den Bart zu mur­meln, dass das nicht die schlechteste Idee gewesen sei, die »wir« hatten. In meinem Fall war das der Tibet-Forscher Ernst Schäfer. Schäfer, bis 1970 Kurator am niedersächsischen Landes­mu­seum in Hannover, hatte 1938 im Auftrag Himmlers eine SS-Expedition nach Tibet geleitet und einen Film mitgebracht, dessen Ausstrahlung Himmler verhinderte, weil darin die Völker Tibets unge­bührlich erniedrigend dargestellt wurden. Die latente Gewalttätigkeit, die solch hoch angesehene Typen auf den niedersächsischen Jagdgesellschaften der siebziger Jahre – ich kam aus einem Jägerhaushalt – ungebrochen, aber immer leicht beleidigt über den Weltenlauf, ausstrahlten, war mit Vespers Textarbeit an solchen Phänomenen leichter wahrzunehmen.

Dass Vesper selbst den Horror nicht ausgehalten hat und sich 1971 das Leben nahm, war zwar, als ich »Die Reise« Ende der Siebziger las, immer noch erschreckend, es tat aber der Lebendigkeit seiner Textarbeit keinen Abbruch, genauso wenig wie der Unfalltod Krahls 1970 seinen »Angaben zur Person« das Leben nahm. Selbst jetzt, als ich beide Texte wieder las, hatten sie nichts von ihrer Lebendigkeit verloren. Was einfach an der Unfertigkeit ihrer Methoden liegt. Immer, in jeder Zeile, merkt man, dass die Autoren etwas wissen und etwas anderes nicht wissen und dass sie das Verhältnis von beidem nur in den Text aufnehmen können, wenn sie sich die Fluchtwege nicht verbauen. Und daran hat sich bis heute wirklich nichts geändert. Auch wenn man heute wissen kann, dass der Fluchtweg Vespers, nämlich Drogen, nicht der beste ist, bleibt der Fluchtweg Krahls, der die Arbeit am Begriff war, so begehbar wie die beiden, Vesper literarisch und Krahl philosophisch, es gezeigt haben.

Vor diesem Hintergrund ist es hoch spannend, das kürzlich in der taz-Themenausgabe zum 68er-Jubiläumsjahr erschienene Streitgespräch zwischen Katharina Rutschky und Götz Aly zu lesen. Aly wie Rutschky waren 68 dabei, und beide wissen, was sie von der Bewegung zu halten haben. Rutschky ordnet sich als Arbeitertochter 68 in die sozialdemokratische deutsche Arbeiterbewegung ein, während Aly 68 als von Anfang an von wild gewordenen totalitären weißen Bürgersöhnen – »Krawallschwaben« nennt er sie – dominierte Veranstaltung liest. Alys Thesen sind dabei den Anforderungen des gegenwärtigen Sachbuch­marktes verpflichtet. Sie sind griffig, entschieden und arbeiten ohne doppelten Boden. »Unser Kampf« ist deshalb auch der nicht unlustige Titel seines aktuellen Buchs zum Jubiläum. Rutsch­ky kann der entschiedenen Ablehnung all dessen, was Aly 68 auch selbst gut fand, immer nur die so genannten kleinen Schritte wie etwa die Verbesserung der Kindererziehung entgegenhalten und darauf pochen, dass die sozialdemokratische Arbeitergeschichte nie totalitär gewesen sei. Was in dieser Ausschließlichkeit zwar auch nicht stimmt, aber mit den Arbeiterbildungsvereinen und Otto Wels’ tatsächlich heroischer Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes immerhin so viel für sich hat, dass Aly in diesem Moment im Gespräch von seiner Position hätte zurückweichen können oder müssen.

Dass er es nicht tat, verlängert die von ihm kritisierte Sicherheit, mit der Rudi Dutschke und andere Köpfe des SDS den abenteuerlichsten Diktatoren der Dritten Welt hinterherliefen, methodisch in seine eigene Analyse, diesmal allerdings unter antidiktatorischen Vorzeichen. Das ist zwar auch nicht gut, aber schon wieder egal, weil danach im nächsten Bücherherbst kein Hahn mehr kräht. Interessanter ist es, wen Rutschky und Aly nicht erwähnen und welchen Geschichtsstrang sie offensichtlich verdrängt haben. Für beide ist 68 eine deutsche Angelegenheit, in der weder Krahl noch Vesper eine Rolle spielen und damit auch nicht die literarische oder theoretisch-artistische Implikation der Bewegung. Aly etwa liest »Bewegung« nur deutsch, dass der Begriff, wie er 68 verwendet wurde, aus Berkeley kam und die Übersetzung von movement war, will er offenbar nicht mehr wissen.

So kann es kommen, wenn man den Blick auf die Geschichte mit der Geschichte verwechselt. Und so demonstrieren Aly und Rutschky einerseits anschaulich, dass man sein Denken nicht von seiner persönlichen Geschichte abkoppeln kann – und auch nicht darf. Andererseits fehlt die Reflexion dieses Standpunkts, wie es Krahl und Vesper literarisch bzw. theoretisch so mustergültig vermochten, darin so sehr, dass man deut­lich mehr Erkenntnisgewinn bei der Lektüre der Werke jener beiden längst Verblichenen hat als bei den Äußerungen dieser oder vieler anderer lebendiger alt-68er 68er-Erklärer, die derzeit den Diskurs bestimmen.