»Wir enteignen nicht, wir übernehmen nur die Kontrolle«

David Choquehuanca Céspedes, Außenminister Boliviens

Nachdem im Dezember in Bolivien von der verfassunggebenden Versammlung ein neuer Verfassungstext verabschiedet worden war, kam es zu massenhaften Protesten. Die politischen Kräfte polarisieren sich. David Choquehuanca Céspedes, der amtierende Außenminister Boliviens, ist 46 Jahre alt, wuchs in dem Dorf Cota Cota Baja am Ufer des Titicaca-Sees auf und hat in der indigenen Basisbewegung gearbeitet – erst in einer indigenen Bauerngewerkschaft, dann als Berater von indigenen Abgeordneten. Auf seiner Reise durch Europa besuchte er in der vergangenen Woche auch Deutschland. interview: knut henkel

Was ist das Ziel Ihrer Reise durch Europa?

Ich will Entscheidungen erläutern, die wir in Bolivien getroffen haben. In der nationalen, aber auch in der internationalen Berichterstattung ist nicht immer korrekt wiedergegeben worden, was in Bolivien passiert.

Offenbar zieht sich ein tiefer politischer und sozialer Graben durch die bolivianische Gesellschaft. Was tut Ihre Regierung, um daran etwas zu verändern?

Wir setzen grundsätzlich auf Dialog statt auf Konfrontation und wollen über unsere Politik auch an den Urnen abstimmen lassen. Daher haben wir auch dem Referendum über eine Autonomie der insgesamt neun Departamentos zugestimmt. Das bolivianische Volk soll entscheiden – es ist die oberste Autorität in unserem Land.

Welche Bedeutung hat das Privateigentum in Bolivien? Nach dem Verfassungsentwurf soll das Privateigentum eine soziale Funktion haben. Was heißt das?

Bolivien ist ein armes Land, aber wir sind reich an Ressourcen. Diese Ressourcen sollen endlich der Bevölkerung zugute kommen. Deshalb versuchen wir, die Hoheit über strategische Güter und Wirtschaftssektoren wiederzugewinnen. Ein strategischer Sektor unserer Wirtschaft ist nun einmal die Erdgasförderung sowie die Energieversorgung im Allgemeinen. Aber auch der Bergbau, die Telekommunikation, die öffentliche Wasserversorgung oder die Stromerzeugung sind aus unserer Sicht strategische Sektoren.

Also wird weiter enteignet?

Das ist nicht die richtige Bezeichnung, denn wir enteignen nicht, sondern übernehmen lediglich die Kontrolle über die Sektoren und handeln neue Bedingungen mit den Investoren aus. Alle internationalen Investoren haben inzwischen neuen Verträgen zugestimmt und sind im Land geblieben. Sie haben auch weiterhin das Recht, Gewinne ins Ausland zu transferieren.

An einer der Gesellschaften, die nun unter staatliche Kontrolle gebracht werden soll, ist auch ein deutsches Unternehmen, die Hamburger Oiltanking, beteiligt. Was bieten Sie den Unternehmen an, wird es Entschädigungen geben?

Die Verhandlungen laufen seit längerem, mehr will ich zu diesem konkretem Fall nicht sagen. Generell war es letztlich doch unstrittig, dass die alten Konditionen oftmals sehr einseitig waren und unter fragwürdigen Bedingungen zustande gekommen sind. Mit den neuen Verträgen profitiert endlich wieder die ganze Nation von den nationalen Reichtümern. Das ist ein Fortschritt aus unserer Sicht, der sich auch in Zahlen niederschlägt. Unsere Verschuldung ist von vier Milliarden auf eine Milliarde US-Dollar gesunken, und die Devisenreserven sind von 1,7 Milliarden auf fünf Milliarden US-Dollar gestiegen.

Allerdings scheint das Vertrauensverhältnis zu den Unternehmen nicht das beste, denn die Investitionen im Energiesektor sind Medienberichten zufolge rückläufig.

Das stimmt so nicht. Im letzten Jahr konnten wir Auslandsinvestitionen in noch nie da gewesenem Ausmaß verbuchen. Erst im Dezember hat Petro­bras (brasilianischer halbstaatlicher Erdölkonzern, Anm.d.Red.) Investitionen zwischen 750 und 1 000 Millionen US-Dollar im Erdgassektor angekündigt. Wir bemühen uns um internationale Investoren, sie haben ein Recht auf Gewinne, und das garantieren wir ihnen auch. Sämtliche neuen Verträge im Erdgassektor sind durch den Kongress gegangen, wodurch die Unternehmen ein hohes Maß an Rechtssicherheit für ihre Investitionen haben. Natürlich wissen wir auch, dass wir Investitionen brauchen, denn auf diesem Weg kommt auch moderne Technologie ins Land, und auf die sind wir angewiesen, um die Armut in unserem Land wirkungsvoll zu bekämpfen.

Allerdings gilt eine Wirtschaft, die mehr und mehr vom Staat dirigiert wird, nicht gerade als Erfolgsmodell.

Wir wollen die Wirtschaft nicht dirigieren, sondern endlich wieder die Hoheit über unsere eigenen Ressourcen wiedergewinnen, um diese Reichtümer gerechter zu verteilen. Wir brauchen Ressourcen, um unsere Ziele auch zu realisieren. Der Verfassungsentwurf erkennt die Realität der von zahlreichen Akteuren geprägten Wirtschaft an und spricht sich für eine gemischte und pluralistische Wirtschaft aus, in der das öffentliche, kommunale und private Eigentum geschützt ist. Dabei ist es, ich wiederhole, unumstößliche Prämisse, dass die strategischen Ressourcen im Besitz des bolivianischen Volkes sein und diesem auch zugute kommen müssen.

Der Verfassungsentwurf garantiert der Bevölkerung das Recht auf Ernährung, auf Bildung, Gesundheit. Wie soll das realisiert werden?

Um diese Rechte garantieren zu können, müssen wir die Staatseinnahmen erhöhen, um mehr zum Verteilen zu haben. Da schließt sich doch der Kreis.

Die Widerstände gegen diese Politik sind beachtlich. Ich denke nicht nur an die Widerstände aus dem vergleichsweise reichen Santa Cruz, der Hauptstadt des Tieflands, sondern auch aus Sucre, der verfassungsmäßigen Hauptstadt des Landes.

Ja, das ist richtig, es gibt Widerstände, Angriffe, wüste Beschimpfungen und Diffamierungen von gewählten Vertretern der Bevölkerung durch Demonstranten. So ist die Justizministerin Celima Torricio gemeinsam mit anderen Abgeordneten in Sucre verbal und körperlich angegriffen und beleidigt worden. Wir, also die Regierung, lassen uns jedoch dadurch nicht provozieren – wir werden an unserer Politik des Dialogs, der Verständigung und Partizipation festhalten.

Wird das reichen, um die Unterschiede zwischen Hoch- und Tiefland zu überwinden und die weitere Spaltung der Gesellschaft zu verhindern?

Das hoffe ich, denn schließlich vertritt die demokratisch legitimierte Regierung die Bevölkerungsmehrheit. Diejenigen, die unsere Regierung diffamieren, ihre Mitglieder teilweise in wüster und rassistischer Weise beleidigen, sind definitiv in der Minderheit. Das wird in der nationalen und teilweise auch in der internationalen Presse oft nicht vermittelt. Das Problem in Bolivien ist, dass die Medien nicht immer objektiv und unabhängig sind. Einige der einflussreichen Sender und Printmedien sind in den Händen derjenigen, die mit dem von unserer Regierung angestrebten Umbau nicht einverstanden sind. Ein Beispiel: Derzeit gibt es rund 40 000 landlose Bauern in der Region von Santa Cruz, die keine Perspektiven haben, weil ihre Väter nur einige wenige Hektar Land besitzen. Diese jungen Menschen drängen zwangsläufig in die großen Städte des Landes, obgleich in der gleichen Region große Landstriche brachliegen und einzelne Großgrundbesitzer 40 000 Hektar und mehr besitzen. Diesen Problemen müssen wir uns stellen, und die Agrarreform soll da ansetzen.

Welche Bedeutung hat die Aus- und Weiterbildung für die Regierung – gibt es ein Defizit an qualifiziertem Personal in Bolivien?

Ja, ohne Zweifel, da gibt es einen großen Nachholbedarf. Ich selbst habe keine akademische Ausbildung, und ich bin nicht der einzige im Kabinett. Wir haben viel zu lernen, und wir wollen lernen, denn allzu lange hat die indigene Mehrheit in Bolivien nicht oder zu wenig am Ausbildungssystem partizipiert. Das muss sich ändern, und das ändert sich auch bereits, denn der Sieg bei den Wahlen hat das Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein der indigenen Völker in Bolivien gesteigert.

Die Europäische Union hat im Dezember angekündigt, dass sie in Bolivien begonnene Forschungen über die positiven Facetten der Koka­pflanze kofinanzieren wird. Welche Bedeutung hat dies für Ihr Land?

In Bolivien ist das Kokablatt heilig, und es hat nicht nur eine wichtige Bedeutung in unseren traditionellen Zeremonien, sondern auch für die Ernährung. Koka enthält viele Proteine, viele Vi­ta­mine und Mineralstoffe, was international kaum bekannt ist. Wir wehren uns gegen die systematische Kriminalisierung der Pflanze, nur weil aus deren Blättern durch einen recht aufwändigen chemischen Prozess Kokain gewonnen wird. Aus diesem Grund ist es ausgesprochen wichtig, anhand der detaillierten wissenschaftlichen Forschung auf die positiven Seiten der Kokapflanze hinzuweisen. Das ist eine Voraussetzung, um die Kriminalisierung unserer heiligen Pflanze endlich zu beenden, und das ist schließlich eines der Ziele unserer Regierung.