Eine Möhre extra

Was Berti Vogts als Nächstes tut, wenn er demnächst als Nationaltrainer von Nigeria entlassen wird, ist noch ungewiss. Eines ist dafür sicher: Ein guter Schauspieler wird nicht mehr aus ihm. von alex feuerherdt

Manchmal findet man im Netz Sachen, die einem wirklich den Tag versüßen. Über verschlungene Wege stieß ich kürzlich bei Youtube auf Ausschnitte aus einem »Tatort« vom Januar 1999. »Habgier« hieß er, und in einer Nebenrolle spielte Berti Vogts mit. Der war damals immerhin Fußball-Nationaltrainer und sogar amtierender Europameister, aber irgendwie hat ihn nie jemand so richtig ernst genommen, den kleinen Terrier aus Korschenbroich am Niederrhein, vor allem nach dem desaströsen Aus bei der WM 1998.

Ob das der Grund war, warum sie ihn in einem Krimi mitspielen ließen? Jedenfalls kommt er plötzlich ins Bild, der Berti, mit einem Karnickel auf dem Arm, das er routiniert streichelt, als ob er das jeden Tag zehnmal machen würde. Na, vielleicht macht er’s ja auch jeden Tag zehnmal, wer weiß das schon? Der Deutsche an sich liebt bekanntlich Haustiere, und wer würde über Berti Vogts nicht behaupten, dass er etwas typisch Deutsches hat? Vielleicht hat er auch was von einem Kaninchen; die beiden wirken jedenfalls sehr symbiotisch.

Dann klopft er an die Terrassentür seiner Nach­barn. Seiner Filmnachbarn. Berti Vogts ist bestimmt auch im richtigen Leben ein guter Nachbar, einer, der seinen Mitmenschen schon mal die leere Mülltonne vor die Einfahrt zurückschiebt, wenn deren Besitzer das vergessen haben. Das ist natürlich nie nur eine Gefälligkeit, sondern das hat immer auch was von einer freundlich-mahnenden Erinnerung. Es muss halt alles seine Ordnung haben. Und bei Berti hatte immer alles seine Ordnung.

Das Tier, das er da trägt, gehört dem Nachbarsjungen, der seine bösen Eltern in die Luft jagen will. Zu diesem Zweck hat er, als alles schon schläft, in der Küche alle Hähne des Gasherds aufgedreht und eine Kerze daneben gestellt, aber vorher noch sein Kaninchen freigelassen – denn das arme, unschuldige Ding soll ja überleben. Berti bringt es nun zurück – und man ahnt schon, dass er dadurch quasi en passant eine Katastrophe verhindern wird.

Als der Nachbar im hastig übergestreiften Ba­de­mantel nun die Tür öffnet, spricht Berti die ersten Worte, die zu seiner Nebenrolle gehören: »’n Abend, das ist doch euer Kaninchen?! Das saß vor meiner Haustür.« Gar nicht mal übel, dieser Einstieg, wie von einem richtigen Schauspieler. Und während sich der Nachbar noch wundert, wie das Viech zu den Vogtsens gekommen ist, schnüffelt Berti kurz in der Luft herum und sagt dann knapp, aber bestimmt: »Es riecht nach Gas!«

Was für ein Satz! Berti spricht ihn emotionslos aus, ohne jede Dramatik, obwohl die Situation dramatischer gar nicht sein könnte. »Es riecht nach Gas!« Er sagt das wie der typische deutsche Bürokrat, aber um die politische Dimen­sion dieser Sentenz haben sich die »Tatort«-Macher natürlich nicht weiter geschert. Wäre ja auch zu viel verlangt gewesen.

Der Nachbar sorgt jetzt rasch dafür, dass es nicht mehr nach Gas riecht, und da fragt der Berti in einem Ton, den ich irgendwo zwischen streng und verwundert ansiedeln würde: »Was ist denn hier los?« Nun kommt die Nachbarin hinzu – ebenfalls im Bademantel –, und als alle ein wenig ratlos in der Küche herumstehen, lässt Berti eine weitere Frage folgen: »Ja, wollt ihr uns denn alle in die Luft jagen?« Er sagt das erneut tonlos, unaufgeregt und noch nicht mal wirklich anklagend, obwohl das Drehbuch das wahrscheinlich lieber gehabt hätte. Aber etwas anklagend formulieren, das kann er vielleicht gar nicht, der Berti, der keinem etwas Böses will und keinem etwas Böses unterstellt. Es sei denn, er wittert eine Verschwörung. Aber dazu später.

Die etwas peinliche Situation versucht der Nachbar mit einer hörbar dämlichen Ausrede aufzulösen. »Das, äh, das müssen die Heizungsmonteure gewesen sein«, stottert er. Denn die seien betrunken gewesen. Berti schüttelt den Kopf, ganz langsam, aber nicht, weil er nicht glaubt, was er da gerade gehört hat. Schließlich würde sein Nachbar doch niemals lügen! Und deshalb rät er ihm, ganz nüchtern und in leichtem Stakkato: »Erstatte Anzeige! Solche Leute arbeiten im falschen Beruf.« Natürlich löst der letzte Satz bei mir genau die Reaktion aus, die er auslösen soll, und ich weiß, wie Hunderttausende, ach was: Millionen von Fußballfans jetzt ebenfalls reagieren. Das mit dem falschen Beruf halt. Hö, hö. Und ich frage mich, ob Berti doch mehr Selbstironie hat, als ich bisher dachte, oder ob ihn die Drehbuchschreiber einfach nur verarscht haben.

Doch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, setzt Berti zum Finale der Szene an: »Gebt dem Kaninchen eine Möhre extra! Es hat uns das Leben gerettet«, sagt er zum Nachbars­ehe­paar, wiederum ohne erkennbare Gefühlsregung. Ich bin zutiefst beeindruckt, sowohl von Berti als auch vom Karnickel, und stelle mir vor, wie Berti nach Oliver Bierhoffs »Golden Goal« im EM-Endspiel 1996 in der Kabine sitzt und genauso tonlos anordnet: »Gebt dem Olli ein Krombacher extra. Er hat uns das Turnier gerettet.« Oder so ähnlich. Müsste man mal nachfragen. Eilt aber nicht.

Anschließend geht der »Tatort« vorläufig ohne den Bundesberti weiter, der kurz vor Schluss dann aber doch noch einmal auf den Plan tritt. Die Szene gibt’s leider nicht bei Youtube, aber ich habe sie bis heute nicht vergessen. Er unterhält sich mit dem Jungen, der eigentlich sein Elternhaus (abzüglich Karnickel) abfackeln wollte und dafür heute wahrscheinlich von Roland Koch nach Sibirien geschickt werden würde. Aber damals, vor neun Jahren, besteht seine Resozialisierungsmaßnahme eben aus einem Gespräch mit dem Trainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, den er fragen darf, ob es eigentlich schwer ist, Europa- oder Weltmeister zu werden. »Europameister zu werden, ist ganz schön schwer«, sagt der Berti da, »und Weltmeister zu werden, ist fast unmöglich.«

Er muss es natürlich wissen, schließlich hatten die Kroaten seine Jungs ein halbes Jahr zuvor mit einem 3: 0 schmachvoll aus dem Turnier gekegelt, was Vogts zu der grotesken Mutmaßung veranlasste, die Welt habe sich gegen die Deutschen verschworen. Und während ich noch darüber sinniere, ob Berti hier, im »Tatort«, seine Konspirationstheorie noch einmal aufleben lassen oder sogar erweitern wird, blökt Kommissar Stoever (alias Manfred Krug) aus dem Hintergrund: »Ihr verliert ja sogar gegen die Türken!« Stimmt tatsächlich, 0: 1 nämlich in der Qualifikation zur EM 2000. Da ist der Berti sprachlos.

Diverse Zeitungen schrieben nach der Sendung, Berti habe sich selbst gespielt. Kann schon sein. Ich weiß es nicht, aber ich erinnere mich daran, dass ich bei seinem Gastauftritt zwischen Fremdscham, Mitleid und einem gewissen Respekt hin und her gerissen war. So ging es mir allerdings auch immer, wenn er als Trainer aufgetreten ist, und insofern war er im »Tatort« viel­leicht tatsächlich authentisch. Nicht wirklich unsympathisch, aber doch etwas klemmig; der Typ Vorgartenspießer halt, autoritär, patriarchal, stockkonservativ und mit einem recht klobigen Humor. Ziemlich deutsch auf jeden Fall.

Und Schauspieler ist er dann ja auch nicht geworden. War sicher besser so. Trotz des Ausscheidens mit Nigeria aus dem Afrika-Cup vor wenigen Tagen.