Gespräch über die Arbeiterklasse und linke »Identität«

»Antikörper gegen eine Rhetorik des Unmenschlichen wurden zerstört«

Ein Gespräch mit dem linken Publizisten und Politologen Marco Revelli von der Universität Turin.

Für die italienische Linke ist der Ausgang der Wahl eine »Katastrophe«. Die Verantwortung für die Wahlniederlage wird vor allem Walter Veltroni, dem Vorsitzenden der Demokratischen Partei (PD), zugeschrieben. Welchen Einfluss hatte seine Kampagne, den PD als einzige Alternative zu Berlusconi darzustellen?

Mit diesen Wahlen verschwindet nicht nur die radikale Linke aus dem Parlament, sondern die gesamte italienische politische Linke. Alle im 20. Jahrhundert verankerten Traditionen, die ver­schiedenen Komponenten der ehemaligen italienischen Arbeiterbewegung, wurden ausgelöscht: vor allem die kommunistische, aber auch die sozialistische und die sozialdemokratische. Darin besteht die Katastrophe, die wir erlebt haben.
Der neu entstandene PD trägt eine schwere Verantwortung für dieses Szenario. Erstens hat die Entscheidung der beiden wichtigsten Parteien der Regierungskoalition, durch eine Fusion die Gründung des PD zu beschleunigen, mit dem erklärten Ziel, das politische System im Sinne eines Zweiparteiensystems zu verändern, die prekäre und knappe Mehrheit der Mitte-Links-Regierung objektiv destabilisiert.
Zweitens hat die Art und Weise, in der Veltroni den Wahlkampf geführt hat, zur gewaltsamen Polarisierung der Abstimmung beigetragen. Indem der Verzicht auf ein Bündnis mit den Parteien links des PD zum Mittelpunkt der Wahlkam­pagne gemacht wurde, hat Veltroni das Stimmen­lager zu seiner Linken leer geräumt, ohne jedoch auch nur ein einzige Stimme auf seiner Rechten dazuzugewinnen. Letztlich ist es ihm gelungen, die Linke verschwinden zu lassen, nicht aber, die Rechte zu schlagen. Im Gegenteil, ihr gegen­über ist er demütig auf Distanz geblieben.
So hat Veltroni Italien wehrlos einer der schlimms­ten europäischen Rechten ausgeliefert: einer Rechten, die in sich explizit neofaschistische Komponenten (wie die Gruppierung um Alessandra Mussolini) und eine xenophobe Partei (wie die Lega Nord von Umberto Bossi) vereint.

Warum hat das »Zukunftsprojekt« einer regierungsunabhängigen, einheitlichen und pluralistischen Regenbogen-Linken nicht funktioniert?

In Wirklichkeit ist die radikale Linke ohne ein glaubwürdiges Projekt in den Wahlkampf gezogen, eigentlich hat sie überhaupt kein Projekt. Nachdem die Strategie, mit der die Regierungsbeteiligung begründet worden war, gescheitert war – die Vorstellung, die Interessen und Ziele der in der Gesellschaft präsenten Bewegungen in die Institutionen tragen zu können –, begnügte sich das Bündnis damit, die Wähler zu bitten, das Überleben der Linken zu sichern.

In den vergangenen Monaten haben die vermeintlich zur linken Wählerbasis gehörenden Arbeiter ihre Distanz, nicht selten ihre Feind­seligkeit gegenüber Vertretern der linken Parteien und Gewerkschaften demonstriert. War das Wahlergebnis nicht vorhersehbar?

Im Nachhinein muss man sagen: »Ja, die Niederlage war zu erwarten.« Vielleicht nicht in diesem Ausmaß, aber der Abstand zwischen den politischen Kräften der Linken und ihrer Basis war wäh­rend der Regierungszeit Prodis enorm gewachsen. Die Schwierigkeit oder gar Unmöglichkeit, die grundsätzlich neoliberalen Leitlinien der Regierungspolitik in Fragen der Sozialpolitik, der Löhne (der niedrigsten Löhne Westeuropas) und des Prekariats zu modifizieren, haben zu einer sehr starken Enttäuschung geführt.
Anhänger der radikalen Linken protestierten gegen die übermäßige Subalternität und die fehlende Kritik an ihr, gleichzeitig aber auch gegen die übermäßige Streitlust, die die Stabilität der Regierung zu gefährden drohte. Letztlich hat die Regenbogen-Linke sowohl links Stimmen verloren – durch Stimmenthaltung und die Wahl ande­rer linker Formationen – als auch rechts – durch die Stimmen für den PD und die Illusion, der PD sei wahrhaft die einzige Alternative zu Berlusconi.

Dass auch die Arbeiterschaft Lega Nord wählt, ist kein neues Phänomen. Neu scheint allerdings zu sein, dass die Lega offensichtlich nicht mehr aus Protest, sondern aus Überzeugung gewählt wird.

Ich würde sagen, es ist ein Votum der Einsamkeit und der Angst. Es ist die Stimme derer, die das Gefühl haben, einer zunehmenden Ver­armung, einer Deklassierung und einem sozialen Absturz ausgeliefert zu sein. Die Fabrikarbeit, die bis in die achtziger Jahre hinein im Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit stand, ist selbst von denjenigen politischen Kräften, die sie einst repräsentiert und organisiert haben, vergessen worden. Die Lega hat heute die organisatorischen Formen und den Stil der politischen Aktionen übernommen, die im vorigen Jahrhundert zu kom­munistischen und sozialistischen Parteien gehörten. Sie ist eine politische Kraft, die an den Aufenthaltsorten, den Arbeitsplätzen und im Leben der unteren sozialen Schichten verankert ist. Die Vertreter der Lega greifen die Stimmungen dieser Menschen auf und bieten Lösungen an, diese sind zwar häufig unmenschlich und geprägt von der Suche nach einem Sündenbock (Aus­länder, Zigeuner etc.), aber sie sind einfach und verständlich.

Mit dem Argument, die Ängste der Leute »ernst nehmen« zu wollen, hat zuletzt auch der PD rassistischen Stimmungen Gehör geschenkt und Überzeugungen vertreten, die bisher eindeutig den Rechten vorbehalten waren.

Die gesellschaftspolitischen Konsequenzen dieser nach rechts gewendeten Politik sind verheerend. Die schlimmsten Triebe, die aus dem Bauch eines verängstigten Landes kommen, werden legitimiert und salonfähig gemacht. Damit werden die, wie ich es nenne, kulturellen Antikörper gegen eine Rhetorik des Unmenschlichen zer­stört.

Es gibt nur eine Periode in der italienischen Geschichte, in der die Linke nicht im Parlament vertreten war: während des Faschismus. Hat der historische Vergleich in der gegenwärtigen Situation eine Berechtigung?

Leider ja. Der Faschismus wurde von Historikern als »Autobiographie der Nation« definiert: eine Versuchung, tief verankert in der DNA dieses Lan­des, die immer wiederkehrt, wenn soziale Veränderungen das gesellschaftliche Gleichgewicht bedrohen. Inzwischen besteht die Gefahr, dass ein neues Kapitel dieser Autobiographie geschrie­ben wird.

Hat die Unterscheidung Rechts/Links angesichts der neuen Kräftekonstellation überhaupt noch Sinn? In Ihrem zuletzt erschienenen Buch sprechen Sie von »verlorengegangenen Identitäten«.

Die italienischen Wahlen bestätigen, dass im neuen, durch die Globalisierung und die jüngsten technischen Umbrüche entstandenen poli­tischen Raum diese für die moderne Politik grund­sätzliche Unterscheidung hinfällig zu werden droht. Vor allem für die Linke scheint sich die Ge­fahr, die eigene Identität zu verlieren, auf dramatische Weise zu realisieren.

Wie schätzen Sie die Chancen dafür ein, dass die an­tagonistischen Kräfte aus der erzwungenen außerparlamentarischen Opposition zu einem neuen Subjekt zusammenfinden?

Bevor eine neue politische Identität, die sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen vermag, entstehen kann, muss zumindest ansatzweise ein neues Paradigma erarbeitet werden, das das in die Krise geratene Politikmodell zu ersetzen vermag. Gewaltverzicht und Reziprozität, d.h. die Fähigkeit, im selben Raum radikal unterschied­liche kulturelle Identitäten koexistieren zu lassen, ohne auf die Gewaltandrohung zur Aufrecht­erhaltung der Ordnung zurückgreifen zu müssen, sind meiner Meinung nach die Elemente für die Neugründung einer Politik, die der neuen Zeit angemessen wäre.