Ausbruch durch den Tunnel
Manchmal scheint es in der Wirklichkeit wie in einem Hollywood-Film zuzugehen. Durch einen unterirdischen Tunnel von 25 Metern Länge, den sie von den Toiletten ihrer Zelle aus gegraben hatten, sollen neun Islamisten am 7. April aus dem Zentralgefängnis im nordmarokkanischen Kénitra ausgebrochen sein.
Die Erdmassen, die sie dabei ausgehoben hatten, sollen sie bei Hofgängen unauffällig im Innenhof aus den Taschen geschüttelt und hinter einem Leintuch am Toiletteneingang verborgen haben. Der Tunnel habe direkt in den Garten des Gefängnisdirektors geführt, von dort aus hätten die Häftlinge nur über eine Mauer klettern und in eine wartende Limousine einsteigen müssen. Drinnen hinterließen sie eine Wandinschrift, in der sie versprachen, »niemandem etwas zu Leide zu tun«. Einige von ihnen waren lediglich wegen der Mitgliedschaft in einer verbotenen Vereinigung oder Teilnahme an einer Versammlung, andere jedoch wegen Mord verurteilt worden.
So jedenfalls schilderte das seriöse Wochenmagazin Maroc Hebdo International die Ereignisse. Der Ausbruch sorgte dafür, dass in der marokkanischen Öffentlichkeit zahllose Gerüchte in Umlauf kamen. Doch das Gefängnis von Kénitra, wo einst unter König Hassan II., der von 1961 bis 1999 regierte, prominente politische Gefangene einsaßen, ist längst keine Hochsicherheitsfestung mehr. Zudem ist das Aufsichtspersonal sehr schlecht bezahlt und unmotiviert. Eine islamistische Gruppe könnte die Sympathien einiger Wärter geweckt haben, die oft aus denselben Armutsvierteln stammen, mutmaßt Maroc Hebdo International. Ferner würden Islamistengruppen durch Gefängnisprediger gezielte Agitation unter Häftlingen wie Wärtern betreiben.
Auch in der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott sind prominente islamistische Häftlinge ausgebrochen, unter ihnen die mutmaßlichen Mörder von vier französischen Touristen. Die Flüchtigen wurden entdeckt, weil sie sich als Frauen verkleidet hatten, am Montag vergangener Woche einer Kinderschar jedoch ihre »männlichen« Bewegungsweisen aufgefallen waren. Die Kinder riefen neugierig »Mann – Frau« und lockten dadurch die Polizei herbei. Die Hälfte der Gruppe wurde nach einem Schusswechsel festgenommen, fünf ihrer Mitglieder entkamen.
Für bewaffnete islamistische Gruppen, die al-Qaida nahestehen, ist das nördliche Afrika ein wichtiges Aktionsfeld geworden. Seit dem 22. Februar sind zwei österreichische Geiseln, die Urlauber Wolfgang Ebner und Andrea Kloibner, in der Gewalt von Entführern, die mutmaßlich zum Netzwerk al-Qaida im Maghreb zählen. Seit Wochen laufen die Geheimverhandlungen, mehrere Ultimaten der Entführer sind verstrichen. Sie fordern Geld sowie die Freilassung von zehn islamistischen Häftlingen in Tunesien und Algerien.
Eingeschaltet in die Verhandlungen hat sich die libysche Muammar-Ghaddafi-Stiftung, vertreten durch den Sohn des Staatsoberhaupts Saif al-Islam Ghaddafi. Die Stiftung zahlte bereits im Jahr 2003 Lösegeld an die Entführer von 20 deutschen, schweizerischen und österreichischen Geiseln, bekam das Geld jedoch wahrscheinlich von der Bundesregierung zurückerstattet.
Die damaligen Entführer gehörten zur GSPC (Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf), der Vorläuferorganisation von »al-Qaida im Land des islamischen Maghreb«, die ihren jetzigen Namen 2006 angenommen hat. Libyen nutzt solche Gelegenheiten, um den Ambitionen auf Anerkennung als Regionalmacht zusätzliche Geltung zu verschaffen, argwöhnt etwa die algerische Tageszeitung La Tribune. Vor allem möchte Ghaddafi demonstrieren, dass er stabilisierend auf die Sahelregion einwirken kann.
Er ist jedoch nicht der einzige, der aus den Umtrieben von al-Qaida politischen Nutzen zu ziehen versucht. Denn zahllose Akteure nutzen das so symbolträchtige wie prominente Label. Zunächst die im Namen von al-Qaida handelnden Akteure selbst, denn die genauen Konturen ihres nordafrikanischen Netzwerks bleiben bislang rätselhaft. Wahrscheinlich aber operieren neben einem harten Kern ideologisch motivierter Jihadisten auch Banden, rekrutiert aus den in der Sahara nomadisch lebenden Bevölkerungsgruppen, unter diesem Etikett. Im Gegensatz zu den meist städtischen Jihadisten können sie in der Wüste leben, sie gewinnen Status und Geld, die Jihadisten wiederum sind auf ihre Ortskenntnisse angewiesen.
Für interessierte westliche Großmächte sind die Aktivitäten von al-Qaida eine Rechtfertigung für die Errichtung neuer Militärbasen und die Stärkung ihrer militärischen Präsenz. So versuchen die USA noch immer, den regionalen Generalstab Africom mit entsprechender Infrastruktur im Raum Nordwestafrika zu stationieren. Vor zwei Monaten lehnte Ghana das Projekt auf seinem Boden definitiv ab, vor kurzem hat auch die Regierung Algeriens sich endgültig gegen Africom entschieden.
Offenbar sehen die Regierungen der Region keine Notwendigkeit, im Kampf gegen militante Islamisten auf US-Truppen zurückzugreifen. Sie können hoffen, dass al-Qaida sich mehr und mehr isoliert und die verbleibenden Jihadisten keine große Gefahr darstellen. Dass al-Qaida vor eineinhalb Jahren die zuvor dort nicht praktizierten Selbstmordattentate nach Nordafrika importierte, hat auch viele Islamisten gegen sie aufgebracht, unter anderem Religionsexperten der Salafisten, die eine Rückkehr zum »ursprünglichen Islam« propagieren. Eine Reihe salafistischer Imame wie Abu Bakr al-Jezairi haben in der jüngsten Zeit die Selbstmordattentate in Algerien verurteilt.
Von der Heftigkeit des Konflikts zeugt ein Mord, den Anhänger von al-Qaida am 16. März im algerischen Oued Souf an zwei Salafisten verübten, die gegen ihre Kampfmethoden Einwände erhoben hatten. Sie wurden in einer Moschee während der Gebetszeit ermordet. Eine größere Anzahl extremistischer Aktivisten hätte, berichtet die Webseite Magharabia.com, daraufhin vorläufig jede Tätigkeit eingestellt, um Anweisungen von ihren religiösen Autoritäten abzuwarten.
Der Konflikt um die Kampfmethoden und Strategien hat inzwischen das islamistische Milieu im gesamten Nordafrika erfasst. In Ägypten veröffentlichte der inhaftierte ehemalige militante Islamistenführer »Doktor El-Fadl« vom Gefängnis aus eine Abhandlung, in der er die Einstellung sämtlicher bewaffneter Aktivitäten fordert. Ihm antwortete der Ägypter Ayman al-Zawahiri, der Stratege von al-Qaida, mit einer Kampfschrift von 380 Seiten, die den Jihad rechtfertigen soll. Offensichtlich ist die Führung besorgt, dass die Anziehungskraft des Jihadismus nachlassen könnte.