Die Kibbuzbewegung in Israel heute

Erwachsene Sozialisten müssen zur Kasse

Die Kibbuzbewegung und ihre Ideen spielten bei der Gründung Israels eine wichtige Rolle. Doch von den egalitären Idealen ist wenig geblieben.

Im historischen Rückblick wirken die paar jungen Menschen, die sich vor fast einem Jahrhundert an der Jordanmündung am See Genezareth niederließen, wie eine Gruppe weltfremder Spinner. »Wir sind gekommen, um eine unabhängige hebräische Niederlassung zu gründen, eine Kollektivsied­lung, in der es weder Ausbeuter noch Ausgebeutete geben wird – eine Kommune«, schrieben sie.
In ihrer Kommune sollte es deshalb auch kein Privateigentum geben, und dazu zählten die Grün­der des ersten Kibbuz in Israel, Degania ­Aleph, Kaffeetassen ebenso wie Kinder. Gegessen wurde gemeinsam im Speisesaal, später konnte man das wenige Taschengeld im kibbuzeigenen Laden ausgeben, allerdings in Gutscheinen. Viele im Kibbuz geborene Kinder wuchsen auf, ohne jemals einen einzigen Schekel in der Hand gehalten zu haben.
Zumindest auf den ersten Blick funktionierte das Experiment. Als in anderen Teilen der Welt der reale Sozialismus in den letzten Zügen lag, er­schienen die Kleinkommunen vielen als der Beweis dafür, dass der Sozialismus sich vielleicht doch realisieren lässt. Doch mittlerweile ist der Kibbuz Degania Aleph, die älteste Kommune des Landes, keine sozialistische Idylle mehr. Nach fast 100 Jahren haben die Bewohner für einen Plan gestimmt, den sie selbst »Schinui« (Veränderung) nennen. In Degania herrscht nun nicht mehr bedingungslose Gleichheit unter den 300 Bewohnern, auch dort wird nun nach Qualifikation und Leistung entlohnt. Strom und Wasser zahlen die Kibbuznikim privat, und im Zentrum des riesigen Speisesaals befindet sich eine Kasse. Zwar müssen Kibbuzmitglieder weniger für ihre Mahlzeiten zahlen als Gäste, aber umsonst gibt es nichts mehr.
Shai Shoshani ist trotzdem davon überzeugt, »die Veränderung« sei auch im Sinne der sozialistischen Gründer. Shoshani war einmal Kibbuzsekretär, jetzt darf er sich »Aufsichtsratsvorsitzender« nennen. An seinem Idealismus hat das nichts geändert. »Vollkommene Gleichheit lässt sich in der heutigen Gesellschaft nicht mehr verwirklichen«, gibt er zu. Die Zeiten hätten sich eben geändert. »Aber ich glaube, eine gewisse Grund­solidarität lässt sich bewahren.« Und diese Solidarität sei das Ziel des »Degania-Modells«.

Denn immerhin, die »Veränderung« ist keine vollständige Privatisierung. Neben den üblichen staatlichen Steuern zahlen die Bewohner von Degania eine Gebühr und eine Abgabe in Höhe von 20 Prozent an den Kibbuz. Dafür muss in Degania noch immer niemand Miete zahlen, die Benutzung von Tennisplatz und Swimmingpool ist auch umsonst. Um die fehlenden Altersrücklagen der Senioren auszugleichen, bekommen diese eine einmalige Zahlung, deren Höhe von der Länge ihrer Mitgliedschaft abhängt. Die Einkommensunterschiede in Degania sind wegen dieser Regelungen auch heute noch deutlich geringer als andernorts in Israel.
Aber ist die Idee des Kibbuz nicht trotzdem gescheitert? Auch wenn Shoshani die Frage offensichtlich nicht zum ersten Mal hört, macht sie ihn wütend: »All die Journalisten fragen jetzt, was schiefgelaufen ist. Dabei muss die richtige Frage wohl lauten: Was lief richtig, dass unser Lebensstil fast 100 Jahre lang gut funktioniert hat?« Er jedenfalls habe nicht das Gefühl, dass der Kapitalismus ihren Traum zerstört habe. »Unser ­Sozialismus ist erwachsen geworden«, sagt er selbst­bewusst.
Das sehen nicht alle Bewohner so. Zwar haben 240 der 287 Mitglieder nach einem Probejahr für die Reformen gestimmt, aber längst nicht alle sehen in ihnen die Rettung ihres sozialistischen Traums. »In meiner Generation gibt es keine Pioniere mehr«, stellt Dani Grienblatt, der Gärtner von Degania, nüchtern fest. »Wir wollen einfach leben. Wir wollen ein Auto, Urlaub und ein Haus, das wir unseren Kindern vererben können.«
Degania ist nicht der einzige Kibbuz, der sich von seinen sozialistischen Idealen zumindest teilweise verabschieden musste. Über zwei Drittel der rund 280 Kibbuzim im Land haben ähnliche Maßnahmen ergriffen – oft nicht freiwillig, sondern als letzte Konsolidierungsmaßnahme. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausge­rechnet die reichsten Kibbuzim sich noch am ehesten an die ursprüngliche Ideologie halten, eben weil sie es sich leisten können.

Die Kibbuzbewegung war immer von staatlicher Unterstützung abhängig, die ihr in Form von Agrar­subventionen zufloss. Bis Ende der siebziger Jahre belief sich die staatliche Hilfe auf 30 bis 50 Prozent der erwirtschafteten Gewinne. Um Kürzungen zu kompensieren, investierten viele Kibbuzim unüberlegt in Industrieprojekte und liehen sich viel Geld von den Banken. Angesichts einer Inflation bis 400 Prozent schien das Anfang der achtziger Jahre ein gutes Geschäft zu sein. Als der Staat schließlich eingriff und die Währung sich stabilisierte, hatten die Kibbuzim kaum abzutragende Schulden. Noch heute betragen die Schulden der Kibbuzim insgesamt geschätzte zwei Milliarden Dollar, obwohl den Kommunen 1989 und 1996 große Teile ihrer Verbindlichkeiten erlassen wurden.
Zudem hatte die treueste Verbündete der Kibbuzbewegung, die Arbeitspartei, bereits 1977 die Wahlen gegen den rechten Likud-Block verloren. Für den Likud aber waren die Siedler in den Palästinensergebieten die neuen Pioniere. Wie früher die Kibbuzim besiedelten sie das Land, verteidigten es notfalls mit ihrem Leben und versuch­ten, es so zu einem Teil Israels zu machen. Die Front habe sich ins Westjordanland verlagert, argumentierten Likud-Politiker und kürzten den Kibbuzim die Zuschüsse.
Oft schwang in solchen Äußerungen auch eine gewisse Abneigung gegen das einflussreiche asch­kenasische Establishment mit, dessen Angehö­rige mit arroganter Selbstverständlichkeit aus den sozialistischen Siedlungen in die staatlichen Machtpositionen aufstiegen. Ein Drittel der Mitglieder im ersten Kabinett des neugegründeten Staates waren Kibbuznikim. Mitte der siebziger Jahre lebten zwar nur sieben Prozent der Gesamt­bevölkerung in den Kommunen, doch 15 Prozent der Knesset-Abgeordneten kamen aus Kibbuzim. Zudem hatten damals insbesondere die aus ärmlichen Verhältnissen stammenden orientalischen Juden nicht den Eindruck, dass die Kommunarden für ihren vergleichsweise hohen Lebensstandard besonders hart arbeiteten. Und tatächlich lag die durchschnittliche Arbeitszeit 1998 im Kibbuz bei 20 Wochenstunden, weniger als die Hälfte der andernorts üblichen Arbeitszeit.

Derzeit leben noch ungefähr 115 000 Menschen in Kibbuzim. Lange Jahre hatte die Bewegung mit einer starken Abwanderung zu kämpfen. Die Kinder verließen die Kommunen meist mit dem Militärdienst und kehrten danach nicht wieder zurück. Das Durchschnittsalter in Degania liegt heute bei 55 Jahren. Seit mehr und mehr Kommu­nen den Weg der Privatisierung gehen, gibt es wieder Anlass zu etwas Hoffnung. Junge Familien suchen heute die Kibbuzidylle; Kibbuzschulen und -kindergärten genießen in Israel einen guten Ruf. So geht es mit den Einwohnerzahlen in ei­nigen Kibbuzim langsam wieder aufwärts. In Neu­baugebieten entstehen dort eindrucksvolle Villen, die in einem starken Kontrast zu den beschei­denen Kibbuzhäusern von einst stehen.
Die Kibbuzim mussten sich wohl ändern, weil ihre Lebensrealität nicht mehr den Bedürfnissen vieler Bewohner entspricht. Sie haben sich aber auch gewandelt, weil sich die israelische Ökonomie gewandelt hat. Das israelische Wirtschaftssystem war jahrzehntelang eine Mischform aus Marktwirtschaft und Planwirtschaft, mit extrem hoher Staatsquote und starken Regulierungen. Der Staat übte entscheidenden Einfluss auf die Finanzmärkte und die Wechselkurse aus, legte viele Preise und Löhne fest und kontrollierte wich­tige Bereiche der Industrie und Landwirtschaft.
Zunächst schien das Konzept aufzugehen. Die ersten Jahre des Staats waren, von wenigen dürren Jahren abgesehen, eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Das Bruttosozialprodukt wuchs bis 1972 im Schnitt um jährlich zehn Prozent. Sogar die Integration von mehreren hunderttausend Einwanderern bewältigte der Staat. Erst mit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 setzte eine neue Phase ein. Das Wirtschaftswachstum stagnierte nun bei zwei bis drei Prozent, die Inflation nahm zu, und Hilfszahlungen aus den USA und Europa machten bis 14 Prozent des Bruttosozialprodukts aus.
Im Zuge der Ölkrise und der internationalen Rezession stieg die Inflationsrate Anfang der achtziger Jahre stetig an, sie erreichte 1984 einen Spitzenwert von fast 450 Prozent. Die Regierung verabschiedete den »Notplan zur wirtschaftlichen Stabilisierung«. Die extreme Situation und die Tatsache, dass der Plan von US-amerikanischen Finanzhilfen abhängig war, ließen dem Staat kaum eine Wahl: Eine Privatisierung und Deregu­lierung musste eingeleitet werden.
Schon einige Jahre früher, nach der Macht­über­nahme des konservativen Likud-Blocks im Jahr 1977, hatte es erste Versuche gegeben, die Privatwirtschaft zu stärken. Im Rahmen der »neuen Ökonomie« wurden Steuern erhöht, Subventionen gekürzt sowie staatliche und gewerkschaft­liche Unternehmen privatisiert. Dieser Prozess dauert bis heute an. Ihren Höhepunkt erreichte die Privatisierungspolitik während Benjamin Netanyahus Amtszeit als Premierminister von 1996 bis 1999. Auch von 2003 bis 2005, als Finanzminister unter Ariel Sharon, hat Netanyahu zum Nachteil der ärmeren Bevölkerung der Gesellschaft die Kürzung der Sozialausgaben vorangetrieben.

Die Zeiten, da es in Israel wenig wirklich reiche, dafür aber auch kaum bitter arme Menschen gab, sind vorbei. Heute sieht man auch in Tel Aviv Bettler am Straßenrand, während gleich nebenan ein Hochhaus mit Luxusappartements nach dem anderen aus dem Boden schießt. Das Zentral­amt für Statistik stellte Ende 2002 fest, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in den westlichen Industriestaaten nur in den Vereinigten Staaten größer sei als im einst so egalitären Israel. Von den sozialistischen Idealen ist im israelischen Alltag eben auch außerhalb der Kibbuzim nur noch wenig übrig.