Über den Free-Jazz-Musiker Peter Brötzmann

Und sie bewegt sich auch

1968 war kein besonders gutes Jahr für den Jazz. Vielleicht gingen die Leute auch einfach lieber auf die Straße als ins Studio. Doch eine Ausnahme gibt es, und sie heißt Peter Brötzmann.

Man habe es satt gehabt, den Fernseher einzuschalten und zu sehen, dass irgendwo auf der Welt wieder Bullen jungen Leuten den Schädel einschlagen. So hat es Peter Brötz­­mann in einem Interview vor ein paar Jahren erzählt. Seine Reaktion auf diesen Umstand war eine sehr aggressive, dezidiert verneinende, unfreundliche Musik: »Machine Gun«, das Album des Peter Brötzmann Octets, im Mai 1968 in der Bremer Kneipe »Lila Eule« eingespielt, ist aus heutiger Sicht die markanteste Free-Jazz-Einspielung. Es gibt bessere Aufnahmen, es gibt vielleicht auch »berühmtere« Free Jazzer als den Wuppertaler Saxofonisten. Aber es gibt kein zweites Album, das so ist wie »Machine Gun«: ein unablässig röhrendes, hämmerndes, schepperndes Etwas. Und auch noch richtig prollig: Die Musiker spielen zwischendurch ein paar Fetzen Bierzelt-Musik. Dann wird wieder in Speedmetal-Manier geknüppelt und durch die Saxofone gejault.
Der Titel, die Musik, das Jahr, die Stimmung – das passt. »Machine Gun« ist eines der wichtigs­ten Alben dieses Jahres, in dem ja auch »Beg­gars Banquet«, »The White Album« und »Electric Ladyland« erschienen. Doch greift der nahe liegende Schluss, Free Jazz als eine typische Acht­undsechziger-Musik zu verstehen, zu kurz.
In früheren Interviews hat Brötzmann jeden politischen Bezug als zu direkt und vordergründig von sich gewiesen, und der Schlagzeuger Sven-Ake Johansson, damals Mitglied der Brötzmann-Gruppen, kommentierte 1980 in einem Interview mit dem Journalisten Bert Noglik lako­nisch: »Wir spielten in kleinen Studentenclubs, in denen es zu dieser Zeit ein augenzwinkerndes Verständnis für die freiere Jazzmusik gab.« That’s it – damit dürfte der direkte Bezug zwischen rebellierenden Studenten und den damals gleichaltrigen Improvisatoren hinreichend beschrieben sein.
Vor 30 Jahren waren Musiker wie Brötzmann noch heiß umstritten, logisch, dass sie zu diesem Zeitpunkt die Identifikation mit einem Album, einer Epoche, einem politischen Zeitgeist ablehnten. Brötzmann hat schon vor »Machine Gun« und erst recht nach diesem Album Musik gemacht, jede Zuspitzung auf die Bremer Ses­sion verengt die Perspektive auf die große Kunstform Free Jazz. Hält man sich an die Fakten, ist Free Jazz tatsächlich eine Prä-Achtundsechziger-Musik – mit einem langen Nachhall, der aber erst ab Anfang der siebziger Jahre zu vernehmen ist.
Als Geburtsstunde des Free Jazz ist die Oktober-Revolution 1964 zu bestimmen. Kein Witz, das Ereignis heißt wirklich so: Vom 1. bis zum 4. Oktober 1964 fand im New Yorker Cellar Cafe ein von Musikern selbstorganisiertes Fes­tival statt. Neutöner und Avantgardisten – von Albert Ayler bis Annette Peacock – gab es in den Straßen von Greenwich Village genug, aber es existierten kaum Orte für regelmäßige Auftritte und noch keine wagemutigen Produzenten. Ein Zeichen musste gesetzt werden. Weil diese Zusammenballung an großartig selbstbewussten Musikern einmalig war, weil man ein bisschen marktschreierisch sein wollte, weil man diesen gesetzten Herren John Coltrane und Miles Davis zeigen wollte, wo der Hammer hängt, nannten sie ihr Festival »October Revolution in Jazz«.
Die große Zeit des amerikanischen Free Jazz dauerte nur zwei, drei Jahre. Den Musikern gelang es nicht, über dieses Festival hinaus trag­fähige, autonome Strukturen zu schaffen. Eine Musikergewerkschaft scheiterte nach wenigen Monaten, weil Sun Ra sich weigerte, mit Frauen zusammenzuarbeiten (seine Ablehnung bezog sich konkret auf Carla Bley und Annette Peacock), und weil Archie Shepp für sich einen hübsch dotierten Plattenvertrag aushandelte – an seinen Genossen vorbei. Davon abgesehen: Kann man sich einen weltentrückten Spiritualisten wie Albert Ayler als Kassenwart vorstellen?
In Westeuropa setzte der Schub ein paar Jahre später ein. Von einer eigenständigen Free-Jazz-Szene kann man erst ab 1966 sprechen, West-Berlin, Amsterdam, London, Paris, Köln und Wuppertal waren die Zentren. Während der ame­rikanische Free Jazz in lokale Szenen zerfiel, es 1969 zu einer massenhaften Abwanderung der Musiker nach Paris kam, entstand nach 1970 in Europa – und zwar sowohl in Ost- als auch West-Europa – ein engmaschiges Netzwerk aus Labels, Festivals und Workshops.
Assoziiert man, was Free Jazz und »1968« gemeinsam haben, kommt man schnell auf die einschlägigen Begriffe: Kollektivität, Bildersturm, Autonomie, Verwerfung der Tradition, Infragestellung aller Konventionen. Aber auch: Maßlosigkeit, Ausschweifung und eine eigentümliche Mischung aus Volkstümlichkeit und kühl-distanziertem Avantgarde-Gehabe.
Schaut man genauer hin, stellt sich fast alles anders dar: Kollektivität ist im Free Jazz kein Wert an sich, sondern Bestandteil eines Gesamt­konzepts. Die starre Trennung zwischen Solist und Begleitung wurde aufgehoben, aber das plat­te Gegenteil – die unablässige Improvisation aller – nicht verabsolutiert. Free Jazz sollte eine totale Musik sein (das bis heute existierende maßgebliche Berliner Festival heißt Total Music Meeting). Das hört sich nach romantischem Ganzheitswahn an, tatsächlich erschien es um 1960 den jungen Musikern nur folgerichtig. Der Jazz war von einem großen Fortschrittsdenken durchdrungen, Fortschritt bedeutete Erweiterung des Materials, harte Arbeit und Über­windung der Vorgänger-Generation, keinesfalls ihre Desavouierung! »Great Black Music« nannte die 1965 gegründete Chicagoer Association for the Advancement of Creative Musicians ihren Entwurf des befreiten Jazz: Er sollte die Klammer für alles zwischen ritueller afrikanischer Musik und Deltablues bilden. Es hat im Free Jazz immer Bandleader, starke Persönlichkeiten und einen dezidiert positiven Bezug auf die Tradition gegeben. ­Ornette Coleman und Albert Ayler waren geradezu traditionsversessen, in Cecil Taylors Musik ist die Erfahrung von Henry Cowell und Charles Ives eingeflossen.
Was macht den Unterschied? Das künstlerische Bewusstsein und die ihm vorhergehende Spielpraxis, die zeigen, dass die Regeln des musikalischen Miteinanders nicht »natürlich« sind, keiner gottgewollten tonalen Ordnung folgen. Als Ornette Coleman seine Komposition »Free Jazz« (1960) von einem Doppelquartett – jedes Instrument ist zweimal besetzt – einspielen ließ, zerstörte er keine Regeln, sondern stellte sie als gemachte aus: als Material der künst­lerischen Freiheit. »Free Jazz« ist ein konventionelles Stück – in dem Sinne, dass es von Konventionen lebt: Das Tempo ist einheitlich, die Reihenfolge der Soli festgelegt, auch an der Rollenverteilung gibt es nichts zu rütteln (Coleman spielt das längste Solo). Aber zu jedem Zeitpunkt ist die Künstlichkeit der Versuchsanordnung klar, das Stück lebt davon, dass man weiß: Es könnte auch ganz anders klingen!
Wer will, kann von dieser künstlerischen Praxis den Bezug zu den Ereignissen finden, die 1968 zum Jahr der Revolte werden ließen: nichts so hinnehmen, wie es sich darstellt. Free Jazz ist eine große Maschine zur Herstellung von Be­weglichkeit. Aber es liegt doch näher, ihn als Verlängerung der Jazzgeschichte und nicht als Bruch mit ihr zu verstehen. Der Miles Davis der sechziger Jahre demonstrierte das auf gelassen-arrogante Weise, indem er seine Musiker Kompositionen spielen ließ, ihnen aber in ausschweifenden improvisierten Parts freie Tona­lität erlaubte. Auch wenn Davis in Interviews kein gutes Haar an den Avantgardisten ließ, prak­tizierte er in seiner Musik die größtmögliche Freiheit. Umgekehrt erwiesen sich Apostel des Free Jazz wie Cecil Taylor oder Sun Ra als unbedingte Disziplin fordernde Bandleader.
Die europäischen Free Jazzer wollten explizit nicht an eine Jazztradition anknüpfen. Im Gegenteil. Der europäische Jazz war epigonal, bot keinerlei positiven Anknüpfungspunkt. Jede direkte Identifikation mit den schwarzen Free Jazzern verbot sich ohnehin. Traditions- und geschichtslos war die Musik dennoch nicht. Peter Brötzmann, Misha Mengelberg oder Willem Breuker stammten aus der Fluxus-Szene, studier­ten bei John Cage und nahmen an Happenings mit Nam June Paik teil. Das Musiktheater Mauricio Kagels übte einen starken Einfluss aus. Auf den Festen und Happenings im Kölner Atelier der Künstlerin Mary Bauermeister trafen in den frühen Sechzigern Post-Serialisten, die Stockhausen-Clique, Minimalisten, adornitisch inspirierte Linksradikale und angehende Free Jazzer aufeinander. Eine kleine Szene, aber sehr produktiv und in einer vermufften Stadt wie Köln unfassbar hip. Diese Szene hat 1968 ihre beste Zeit schon hinter sich.
In London aber erneuert sich dieser Zusammenhang aus Neuer Musik, politischem Radikal­ismus und freier Improvisation. Im Frühjahr 1969 gründen die Komponisten Cornelius Cardew, Michael Parsons und Howard Skempton das Scratch Orchestra. Eine Großgruppe mit bald 40 Mitgliedern: Musiker, Arbeiter und Bohemiens schulen sich gegenseitig in Marxismus-Leninismus und Zwölftonmusik, sie konzipieren Musik für Nicht-Musiker (und umgekehrt), konstituieren sich als ein in Permanenz tagender Sowjet. 1974 zerfällt das Orchester unter dem Druck der Hyperpolitisierung, die Maoisten fordern doch mehr »Disziplin«, als dem Rest lieb sein kann. Das Scratch Orchestra, dessen Praxis nur höchst unzureichend dokumentiert wurde, ist vielleicht das aufregendste Ensemble seit Duke Ellingtons Big Bands der vierziger Jahre.
In den Siebzigern spielt das Globe Unity Orchestra, de facto das Zentralkomitee der europäischen Improvisatoren, unter der Leitung von Peter Kowald und Alexander von Schlippen­bach in der Wuppertaler Fußgängerzone (die Posaunisten stehen auf den Dächern und blasen Alphorn), auf dem Moerser New Jazz Fes­tival tritt Globe Unity mit der örtlichen Feuer­wehr­kapelle auf, Proletenmärsche von Hanns Eisler werden ins Programm aufgenommen. Der Widerstand des Establishments ist geringer geworden: Rundfunkanstalten und Kommunen, öffentliche Geldgeber also, finanzieren die Happenings. Kowald und Schlippenbach kokettieren mit unmittelbaren Praxisformen (Volkstümlichkeit!), der Glutkern der Globe-Unity-Musik bleibt eine für viele Hörer verstörend undurchdringliche Kollektivimprovisation.
Wie stumpf eine unmittelbare Politisierung sein kann, demonstrierte Pianist Joachim Kühn mit seiner Brachialimprovisation »The Third World War« (1969), die er mit folgenden Worten kommentiert: »Der Musiker, überhaupt der Künstler, nimmt ja immer die Dinge voraus. Dass er das tut, dass er die kommenden Dinge in Kunst verwandelt, ist sein bescheidender Beitrag dazu, auf Kommendes hinzuweisen, viel­leicht auch, davor zu warnen. Alles, was kommen wird, das ganze nächste Jahrhundert, ist heute schon in der Kunst, in allen Künsten. Die Leute – vor allem die, auf die es ankommt – wollen es nur nicht wissen.«
Aber das ist ein Ausreißer, es gibt kaum Hippie-Anleihen im Free Jazz, kaum apokalyp­tisches Geraune. Erst der New Yorker Retro-Free-Jazz der neunziger Jahre revitalisiert Flower-Power-Symbolik und Räucherstäbchen­düfte. Als hätten es alte Helden wie Milford Graves oder Charles Gayle jemals darauf angelegt!