Gespräch mit dem Rechtsanwalt Martin Klingner über das neue italienische Urteil im Prozess zum SS-Massaker in Distomo

»Die Regierung wird sich etwas einfallen lassen, um das Urteil zu sabotieren«

Bis heute weigert sich der deutsche Staat, den Überlebenden des Massakers von Distomo, bei dem am 10. Juni 1944 218 Zivilisten von der SS ermordet wurden, Entschädigungen zu zahlen, obwohl das oberste griechische Gericht die Bundesrepublik dazu im Jahre 2000 rechtskräftig verurteilt hat. Am Donnerstag voriger Woche entschied das Kassationsgericht in Rom, dass sich Deutschland in Entschädigungsfragen nicht auf die Staatenimmunität berufen darf, und bestätigte damit das griechische Urteil. Einer der Kläger in Rom war Argyris Sfountouris, der das Massaker von Distomo überlebte. Er wird vom Hamburger Rechtsanwalt Martin Klingner vertreten.

Ist es Zufall, dass das Urteil des römischen Kassationsgerichts wenige Tage vor dem ­Jahrestag des Massakers gefällt wurde?

Das war kein Zufall, ich gehe davon aus, dass es eine bewusste Entscheidung der Richter war. Während der Verhandlung in Rom haben sich die Richter allerdings nicht zu dem Ereignis geäußert. Der Generalanwalt am Kassationshof hat sogar ein Plädoyer für die deutsche Seite gehalten, was Befürchtungen der Opferanwälte bestätigte, dass von deutscher Seite diplomatisch interveniert worden war. Das ändert jedoch nichts an dem Resultat, mit dem wir Anwälte kaum noch gerechnet haben.

Sie haben das Urteil als »epochale Entscheidung« gewürdigt. Dabei ist es nicht das erste Urteil, in dem der deutsche Staat für Verbrechen an der Zivilbevölkerung zum Schadensersatz verpflichtet wird.

Nein, es gibt ein rechtskräftiges Urteil aus Griechenland. Es ist die Entscheidung, die ursprünglich vom Landgericht Livadia in Distomo gefällt und durch den Aeropag, das oberste Zivil- und Strafgericht Griechenlands, im Jahre 2000 bestätigt wurde. Das Verfahren in Griechenland ist rechtskräftig abgeschlossen und vollstreckbar. Allerdings hat der griechische Justizminister die Zustimmung zur Vollstreckung nicht erteilt, was nach griechischem Zivilprozessrecht erforderlich wäre, um Staatseigentum zu pfänden. Die italienischen Gerichte haben vergangene Woche nicht noch einmal in der Sache entschieden, sondern nur darüber, ob dieses Urteil auch in Italien vollstreckt werden kann. Insoweit hat der Kassationshof in Rom das Urteil des Aeropags eigentlich nur bestätigt, und das Urteil kann jetzt in Italien vollstreckt werden.

Dann wird jetzt also das deutsche Kulturinstitut in Italien, die Villa Vigoni in Como, zwangsversteigert?

Das Urteil, das vergangene Woche gesprochen wurde, bezieht sich nur auf die Prozesskosten des griechischen Verfahrens. Das heißt über die Haupt­sache hat der Kassationshof noch gar nicht entschieden. Wir Anwälte haben damit erstmal einen Test gestartet, um dann mit der Hauptsachenforderung, also den Entschädigungszahlungen, nachzuziehen. Im Herbst wird dann über diese Forderung entschieden werden. Allerdings kann wegen der Gerichtskosten die Vollstreckung bereits eingeleitet werden, und auf die Villa Vigoni sind bereits Sicherungshypotheken eingetragen, damit ist sie gepfändet. Wenn die Bundesregierung sich weiter stur stellt, dann werden die Zwangsversteigerungsmaßnahmen eingeleitet werden.

Ist es Zufall, dass ausgerechnet die Kulturinstitute im Falle einer Nichtzahlung seitens des deutschen Staates gepfändet werden, und wer entscheidet eigentlich darüber, welches staatliche Eigentum gepfändet wird?

Der Anwalt, der mit der Vollstreckung betraut ist, in diesem Fall war das Joachim Lau, entscheidet und legt fest, was gepfändet werden soll. So ganz zufällig ist die Wahl der Villa Vigoni natürlich nicht. Sie ist sehr bekannt, und das hat natürlich eine gewisse Öffentlichkeitswirkung.

Wie haben die Überlebenden in Distomo auf das römische Urteil reagiert?

Sie haben sich natürlich sehr gefreut. Denn seit dem Aeropag-Urteil 2000 hat es nur noch juristische Rückschläge gegeben, was zu einer gewissen Frustration geführt hatte. Aber solange das Geld aus Deutschland nicht angekommen ist, glaubt man nicht an einen endgültigen Erfolg. Denn wir rechnen damit, dass sich die deutsche Regierung etwas einfallen lassen wird, um dieses Urteil zu sabotieren.

Warum sind Sie mit Ihrem Mandanten Argyris Sfountouris ausgerechnet vor das römische Gericht gezogen?

Das war eine Überlegung von mir und Ioannis Stamoulis, dem verstorbenen Anwalt der Distomo-Opfer, und der Anwälte Joachim Lau und Gabriele Heinecke. Die Grundlage unserer Entscheidung war das Urteil des römischen Kassationshofs im März im Fall des italienischen Zwangsarbeiters Luigi Ferrini, das Joachim Lau 2004 erstritten hatte. Damals hatte das Gericht entschieden, dass Deutschland sich nicht auf Staaten­immunität berufen darf, wenn es um Kriegsverbrechen geht. Deshalb haben wir die juristische Situation in Italien für unser Anliegen am günstigsten eingeschätzt, denn auch im Fall Distomo hat sich der deutsche Staat auf seine Immunität zurückgezogen.

Die Bundesregierung hat bislang nur kurze Statements durch Sprecher einzelner Ministerien abgegeben. Eines davon stammt aus dem Auswärtigen Amt, die deutsche Regierung werde möglicherweise Italien vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH) verklagen. Was würde denn der Gegenstand einer solchen Klage sein?

Das ist tatsächlich schon die letzte Notlösung, die der Bundesregierung bleibt. Ob das allerdings überhaupt einen Einfluss auf das römische Urteil haben kann, wage ich zu bezweifeln. Denn der IGH entscheidet über völkerrechtliche Streitigkeiten zwischen Staaten, und ob der sich wegen einer Forderung griechischer Überlebender und Hinterbliebener dazu berufen fühlt, aus dieser Angelegenheit eine zwischenstaatliche Streitigkeit zu machen, ist äußerst fraglich. Auf der propagandistischen Ebene wird die bundesdeutsche Seite es sicherlich versuchen wollen. Allein diese Ankündigung zeigt, dass die Bundesregierung offensichtlich nicht gewillt ist, ihre Haltung zu ändern und die Sache zu einem für beide Seiten vertretbaren Ergebnis zu bringen.

In der Süddeutschen Zeitung wird ein Sprecher des Justizministeriums zitiert, der die Opfer darauf hinweist, dass sie vor einem deutschen Gericht Klage erheben könnten. Kennt das Justizministerium seine eigenen Urteile nicht mehr?

Diese Bundesregierung erlaubt sich damit eine unglaubliche Dreistigkeit. Wir haben zusammen mit meinem Mandanten Argyris Sfountaris 1995 die erste Klage vor einem deutschen Gericht eingereicht. Das heißt, dass wir seit 13 Jahren alles versucht haben und bis zum Bundesverfassungsgericht gegangen sind. Das hat die Ablehnung von Entschädigungszahlungen im Jahre 2006 damit begründet, dass das Massaker in Distomo ein unerlaubter Exzess einer an sich zulässigen Vergeltungsmaßnahme gewesen sei. Und ein allgemeines Kriegsschicksal begründe keine individuelle Entschädigung.

Nach dem Urteil in Griechenland vor acht Jahren hat die Bundesregierung auch von Verjährung gesprochen. Viele Kommentare in der deutschen Presse lauteten nach dem Urteil von vergangener Woche ähnlich. Können die Deutschen nicht akzeptieren, dass Verbrechen gegen die Menschheit nicht verjähren?

Als ernsthaftes juristisches Argument ist die Verjährung nicht vorgetragen worden. Die Bundesregierung hat zwar immer wieder in allen Verlautbarungen betont, dass es an der Zeit sei, sich der Zukunft zuzuwenden, und dass die alten Geschich­ten der friedlichen Zusammenarbeit mit Staaten wie Griechenland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuträglich seien. Aber als zivilrechtlicher Einwand hat sie in Griechenland hauptsächlich darauf Bezug genommen, dass Deutschland vor Gerichten eines anderen Staates nicht verklagt werden kann, weil es Immunität genießt. Mit vielen weiteren Sachfragen haben sich die Vertreter der bundesdeutschen Seite gar nicht befasst, weil sie nicht damit gerechnet haben, dass sie tatsächlich verurteilt werden würden.

Hat die Bundesregierung mit Ihrem Mandanten jemals Kontakt aufgenommen?

Nicht direkt und nie, um Verhandlungen über Entschädigungsleistungen zu führen. Es gab allenfalls Gespräche informeller Art. Die Versuche, Verhandlungen zu führen, sind vor 1997 gelaufen, als die Anwälte und Opfervertreter der Bundesregierung Vorschläge für eine Lösung gemacht haben, doch die sind nie wirklich diskutiert worden. Erst als es die ersten juristischen Erfolge der Kläger im Ausland gab, hat die Regierung die Sache überhaupt ernst genommen.

Können sich Überlebende anderer SS-Massaker auf das römische Urteil berufen, wenn sie Entschädigungszahlungen einklagen wollen?

Der Kassationshof hat ja nicht nur im Fall Distomo entschieden, sondern auch über mehrere Zwangsarbeiterfälle, in denen es hauptsächlich um Militärinternierte geht, die Zwangsarbeit leisten mussten. Diese Leute wurden vom deutschen Entschädigungsfonds mit der Begründung ausgeschlossen, dass es für Kriegsgefangenschaft keine Entschädigung gibt. Faktisch haben diese Leute aber Zwangsarbeit geleistet und wurden nicht als Kriegsgefangene behandelt. Dieses Urteil bereitet der Bundesregierung sicherlich noch mehr Kopfzerbrechen, weil es um eine Zahl von mehreren Tausend Überlebenden geht, die Ansprüche an die BRD stellen werden. Es wird um Beträge gehen, die weit über dem liegen, was die Menschen aus dem Entschädigungsfonds bekommen hätten. Da wären es maximal 8 000 Euro gewesen. Jetzt handelt es sich um mindestens sechsstellige Beträge pro Person, je nach dem, was den Einzelnen widerfahren ist.