Ein Freizeitkicker im holländischen Knast

Hooligan für eine Stunde

Wie man durch einen Freizeitverein im niederländischen Knast landen kann.

Es gibt ja zwei Arten von Strafgefangenen: solche, die Opfer irgendeines Unrechtssystems sind (zum Beispiel Leo Trotzki und Nelson Mandela), und solche, die es verdient haben (Rudolf Hess). Um es vorwegzunehmen: Ich zähle mich zur ersten Gruppe – und hoffe, der Leser wird mir am Ende dieser kleinen Geschichte zustimmen.
Die ersten Schritte auf meinem aus heutiger Sicht unausweichlichen Weg raus aus der Gesellschaft und rein in den Knast ging ich im Frühjahr des Jahres 2002. Damals lud die ambitionier­te Fußballmannschaft De Kijker mein bereits etwas in die Jahre gekommenes Freizeitkickerteam sowie unsere englischen Freunde von Dyna­mo Denmark zu einem Turnier nach Utrecht ein.
Holland? Wir waren skeptisch. Da waren wir doch noch nie. Aber weil die Stadt Utrecht ein bedeutendes Museum für Religionsgeschichte beheimatet und der Utrechter Dom ein Glockenspiel aus dem 17. Jahrhundert sein Eigen nennt, nahmen wir die Einladung schließlich an und machten uns erwartungsfroh an einem Freitag im Juni auf die Reise.
Das Turnier am Samstag verlief ohne Überraschungen: Wir waren in jedem Spiel die klar bessere Mannschaft, konnten aber aus unerfindlichen Gründen nie gewinnen. Noch nicht mal gegen die Letten, die mit Wanderschuhen spielten und kleine Mädchen in ihrem Team hatten. Als hätten sich höhere Mächte gegen uns verschworen. Und das seit Jahren.
Um auf andere Gedanken zu kommen, zog ich mit zwei Begleitern Richtung Innenstadt. Dort wollten wir nichts demolieren, sondern eine Bier­bar in pittoresker Lage aufsuchen. Wir schlenderten also von unserer preisgünstigen Unterkunft – Razzia würden heute nicht »Als Haus wärst du ’ne Hütte« singen, sondern »Als Haus wärst du dieses eine abgeschredderte Hos­tel in Utrecht« – wir schlenderten also durch die Straßen. Und weil ich mal wieder intensiv über das Großvater-Paradoxon nachdachte, verlor ich den Anschluss an meine Mann­schafts­­kollegen. Aus der Gedankenwelt zurückgekehrt und auf die Umgebung achtend, sah ich die Jungs in Hellblau plötzlich auf der anderen Stra­ßenseite. Sie winkten und lachten und ermunterten mich, doch endlich die Straße zu überqueren. Die Ampel sei zwar rot, aber sie hät­ten keine Lust mehr zu warten und überhaupt.
Hmm. Auf der Straße bildeten die Autos mitt­lerweile eine Schlange, da deren Ampel ebenfalls seit einer Ewigkeit Rot zeigte.
Ich Rot. Autos Rot. Soll ich loslaufen? Was, wenn die dann Grün kriegen? Ich möchte nicht unter diesem komischen Transporter da in der ersten Reihe landen. Oder wird sowieso gleich meine Ampel Grün? Warum hab’ ich eigentlich damals nicht Latein gewählt? Darum geht’s jetzt nicht! Stehen bleiben oder laufen. Stehen bleiben oder laufen.
Okay, laufen!
»Hey, hey, hey … « Die Wagentür des ersten Fahrzeugs an der Ampel geht auf, zwei Männer springen raus. Ich fasse es nicht! Das war nicht irgendein Transporter, sondern ein Polizeiwagen. Typ: Wanne. Nur in Orange-Blau und deshalb für mich nicht als Einsatzfahrzeug zu erkennen. Perfide Staatsmacht. Zwei junge kräftige Männer reden auf mich ein, in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Vermutlich Holländisch. Die Herren nehmen mich erst mit in den Wagen und dann in die Mangel.
Bevor es weiter geht, muss ich an dieser Stelle kurz das schwierige deutsch-holländische Verhältnis beleuchten. Die Holländer mögen die Deutschen nicht, und für kaum eine tradierte Abneigung auf der Welt habe ich mehr Verständnis.
Denn: In den Beziehungen zwischen anderen verfeindeten Ländern sind die Abneigung erzeugenden Ereignisse entweder viel zu lange her oder von den Ablehnenden einfach aus mehr oder minder durchsichtigen Motiven aufgebauscht. Schotten mögen keine Engländer? Verstehe ich nicht. Griechen mögen keine Türken? Reißt euch mal zusammen!
Häufig laufen diese Geschichten im umgekehrten Beatles-Modus: »Everybody Needs Somebody To Hate«. Anders bei den Holländern. Ich finde, die dürfen Deutsche hassen:
Erst sind deutsche Mörderbanden über das Land hergefallen, danach hat sich das deutsche Fernsehen Rudi Carrell geschnappt, und heute sind die holländischen Städte voll mit bekifften deutschen Schülern und Studenten, die das herrlich liberale gesellschaftliche Klima loben und kurz danach in die Grachten reihern. Wer könnte ob dieser Ereignisse voller Liebe für die Deutschen sein?
Die beiden Polizisten jedenfalls nicht.
– Where do you come from?
– Äh … Germany.
– Aaaaah! Germany! Do you have police in Germany?
– Yes.
– Do you respect the German police?
– Yes.
– Then you have to respect the Dutch police as well.
Das wollte ich nur zu gern, aber alle Entschuldigungen nützten nichts. Die Herren Beamten waren heiß und nahmen mich mit auf die Wache. Die lag ungefähr 25 Kilometer vom Tatort entfernt und war mit soliden Einzelzellen ausgestattet. Eine davon bekam ich.
Die Männer nahmen mir wegen akuter Selbstmordgefahr den Gürtel ab, durchsuchten mich und schlossen die schwere Eisentür hinter mir ab. Durch einen in der Tür eingelassenen Streifen Panzerglas oder so etwas Ähnliches sah ich eine Mitgefangene, die augenscheinlich wegen eines Drogendelikts in einer misslichen Lage war. Alle 15 Minuten erschien ein Beamter, überzeugte sich davon, dass wir noch lebten, und kritzelte zur Bestätigung seines Rundgangs einen Strich auf eine Tafel über den Zellen.
Bald erkannte ich die Vorzüge meiner Lage. Da mein Leben ohnehin in einer Sackgasse steck­te, könnte ich im Knast einen Neustart schaffen. Vielleicht ein paar Fremdsprachen lernen, etwas Handwerkliches machen, mich irgendeiner Religion anschließen. Oder einfach den internen Drogen- und Waffenhandel organisieren, so eine Art Gefängnis-Mafia aufbauen. Auf jeden Fall würde ich am Ende meiner Haft mit meinen erschütternden Memoiren einen Bestseller landen und richtig viel Geld verdienen. Ich war im Paradies!
Oder war es die Hölle? Plötzlich fielen mir diese Knastfilme ein. Die Kerle, die da zu den ganz großen Nummern gehörten, waren irgendwie anders drauf als ich. Ich war noch nicht mal tätowiert, und meine letzte körperliche Auseinandersetzung hatte ich beim Boxtraining vom Uni-Sport mit einem angehenden Physik-Lehrer. Typen wie ich dürfen im Knast höchstens mal die Seife aufheben. Je länger ich grübelte desto dunkler sah meine Zukunft aus. Was waren noch mal genau die Folgen von sensorischer Deprivation?
Das Gefühl, die Zelle fährt …
Ich musste raus. Ich hatte Angst. Ich kannte meine Rechte nicht.
Mich beschlich ein Verdacht: Am Tag nach meiner Verhaftung war doch das WM-Finale zwischen Deutschland und Brasilien. Die holländischen Cops könnten mich mit der Argumentation »Ein deutscher Hooligan hat uns provoziert« bestimmt tagelang im Bau sitzen lassen. Es war an der Zeit, über eine Knastträne nachzudenken.
Nach einer Stunde riss einer der Beamten die Tür auf und nahm mich mit in sein Büro. Ich sollte eine Aussage machen, eine Geldstrafe zahlen und verschwinden.
Die Freiheit – zum Greifen nah. Plötzlich geht sein Funkgerät an, jemand schreit. Er springt auf, schnappt sich seine Pistole, knallt die Tür zu und schließt von außen ab.
Ich spielte mit dem Gedanken, von seinem Telefon aus meinen Anwalt anzurufen. Aber erstens wusste ich nicht, ob ich eine Null fürs Amt vorweg wählen musste, und zweitens hatte ich gar keinen Anwalt. Also wieder warten.
Eine Ewigkeit später kam mein Beamter zurück. Mit richtig mieser Laune. Vermutlich hatte er bei seinem Einsatz gerade jemanden erschossen. Ich litt mittlerweile unter dem Stockholm-Syndrom und hatte ihn schon ein bisschen lieb gewonnen, meinen kleinen Muffelkopf. Wir erledigten zügig den Papierkram, ich gab ihm eine lächerlich hohe Summe Geld, dann durfte ich mir ein Taxi rufen.
Der erste Satz, den ich als freier Mann hörte, kam von dem indischen Taxifahrer: »May I ask you why I had to pick you up at the police station? You don’t look like a policeman … «