Flüchtlinge in der nigerianischen Metropole Lagos

Tanz den Kollaps

Lagos ist die größte Stadt südlich der Sahara. Hier kommen täglich Migranten und Flüchtlinge aus verschiedenen afrikanischen Ländern an und Nigerianer, die aus Europa abgeschoben werden. Für sie bedeutet die Ankunft in der nigerianischen Metropole das Ende aller Träume und einen Hauch von Apokalypse.

Regenzeit in Nigeria. In Lagos gießt es in Strömen. Tope Omisore schaut auf den Lauf des Gewehrs, das der Soldat vor ihm in der Hand hält. Es ist eine G3 aus der Schwarzwälder Waffenschmiede Heckler und Koch. »Was fällt euch ein? Hier werden keine Fotos gemacht«, schreit der kleinwüchsige Uniformierte mit dem Kindergesicht. Dabei wollten Tope und seine zwei Freunde nur kurz in der Innenstadt aus ihrem angemieteten Wagen aussteigen und sich die Bank of Industry anschauen. Das Gebäude ist vor zwei Jahren ohne äußere Einwirkung zur Hälfte eingestürzt. Seitdem ziert die Ruine das Zentrum von Lagos Island. Ein Symbol für Pfusch und Fehlplanung. Die Überreste der Bank werden von der Armee bewacht. Die kaum 18jährigen Soldaten knöpfen sich die Fremden vor. In der Tasche des einen haben sie einen Fotoapparat entdeckt. Für ihre Neugier sollen die drei Männer büßen. Ihr Fahrer hat das Weite gesucht. Sie stecken in der Klemme.

Tope und seine beiden Begleiter sind nicht die ersten, die die Willkür der nigerianischen Staatsmacht zu spüren bekommen. Im vergangenen Jahr wurden die deutschen Dokumentarfilmer Florian Opitz und Andy Lehmann wegen Spionageverdachts verhaftet, weil sie ohne Genehmigung gedreht hatten. Die beiden saßen sechs Wochen in Nigeria fest. »Polizei und Armee sind unberechenbar. Sie wollen nicht, dass man ihr Land in einem schlechten Licht zeigt«, sagte Tope noch vor zwei Stunden, beim Schlürfen einer Cola in einem zehn Quadratmeter kleinen Zimmer im Stadtteil Surulere.
Seit seiner Abschiebung aus Luxemburg lebt der 22jährige dort. Die Wohnung gehört einem befreundeten Ehepaar. Sie ist mit dem Nötigsten aus­gestattet: einem Tisch, einem Sofa, einem Fernseher. An den Wänden hängen vergilbte Fotos. Hinter einem Vorhang befindet sich der Schlafraum. Durch einen dunklen Gang, der die einzelnen Wohnungen des Hauses miteinander verbindet, dringt der Lärm der Straße. Es herrscht immer Hochbetrieb in Surulere, einem Stadtteil der mehr als 15 Millionen Einwohner zählenden Metropole. Lagos ist nicht nur die größte Stadt südlich der Sahara, sondern auch eine der dichtestbesiedelten und am schnellsten wachsenden weltweit. Trotz der teils katastrophalen Lebensbedingungen hat der Moloch am Golf von Guinea anscheinend nichts von seiner Anziehungskraft ver­loren. Täglich wandern Tausende von Menschen auf der Flucht vor Armut oder vor regionalen ethnischen Konflikten aus ganz Nigeria und den angrenzenden Ländern zu. Manche zimmern sich im verseuchten Wasser der Lagune eine Hütte auf Stelzen, andere reihen sich ein ins Heer von Bettlern, Straßenkindern und Tagelöhnern.

Zwischen den ein- und zweistöckigen Häusern von Surulere schieben sich die Autos im Schritttempo über die schlammigen Pisten. Ein ums andere Mal bleibt ein Fahrzeug im Morast stecken. Vorbei an Hauswänden und Straßengräben, die der Regen mit Wasser gefüllt hat, drängen sich Fußgänger: geschäftige Straßenverkäufer, gelangweilte Jugendliche und spielende Kinder sowie Frauen, die ihre eingekauften Haushaltsartikel auf dem Kopf transportieren. Eilig bringen die Händler ihre Ware ins Trockene. Ein Friseurladen steht unter Wasser. Im oberen Stockwerk desselben Hauses befindet sich eines der zahlreichen Internetcafés. Tope sucht es regelmäßig auf, um seine E-Mails zu checken und nach Luxemburg zu schreiben, wo er fünf Jahre lang gelebt hat. Nach der Ermordung seines Vaters, eines Mitglieds der nigerianischen Oppositionspar­tei Alliance for Democracy, floh er im Mai 2003 im Alter von 17 Jahren per Schiff aus Nigeria. Von seiner Mutter hat er seither nichts mehr gehört. »Man riet mir zu verschwinden«, erzählt Tope. Als blinder Passagier gelangte er nach Europa. Die Überfahrt nach Rotterdam dauerte zwei Wochen. Dort kaufte er ein Zugticket nach Luxemburg.
Hier war Tope zuerst in einem Asylbewerberheim untergebracht, danach lebte er drei Jahre lang in einer luxemburgischen Familie. Der junge Nigerianer besuchte Französisch- und Deutsch­kurse. Er nahm an Projekten der Caritas teil und absolvierte ein Praktikum bei H&M. Doch das luxemburgische Immigrationsministerium lehnte seinen Asylantrag ab. Im Februar wurde Tope zusammen mit drei Landsleuten aus der Abschiebehaft zum Luxemburger Flughafen gebracht und von dort aus, begleitet von acht Polizeibeamten, einer Krankenschwester und einer Mitarbeiterin des Roten Kreuzes, mit einer Chartermaschine nach Lagos geflogen.
Nigeria gehöre zwar nicht zu den sichersten Ländern, gab Luxemburgs stellvertretender Außenminister Nicolas Schmit zu. Das bedeute aber nicht, dass niemand dorthin abgeschoben werden könne. Als Grundlage für die Aktion diente ein Rückführungsabkommen, das die luxemburgische Regierung 2006 mit Nigeria getroffen hatte – nach den Worten des Ministers ein »gentle men’s agreement«.

»Jeder will hier weg«, sagt Freedom Ekwo, »kaum einer will bleiben. Selbst die Reichen hauen ab und nehmen ihr Geld mit.« Freedom arbeitet in Lagos für einen privaten Sicherheitsdienst. Der ständig lächelnde Schlaks bewacht eine mit hohen Mauern und Stacheldraht geschützte Wohnanlage, in der Mitarbeiter der deutsch-nigerianischen Baufirma Julius Berger – einem Tochterunternehmen des Konzerns Bilfinger & Berger – untergebracht sind. Auch Freedom hat den Sprung nach Europa probiert. Mit dem Schiff schaffte er es nach Lissabon. Sechs Monate hauste er in einer heruntergekommenen Pension in der portugiesischen Hauptstadt. Er habe sich an die falschen Leute gehalten, sagt er, und das Lächeln weicht aus seinem Gesicht: »Ich wusste nicht, dass mein Mitbewohner in Lissabon mit Drogen dealte.« Nach einer Razzia sei er festgenommen und kurz darauf abgeschoben worden. Zurück in Lagos fand Freedom den Job als Wachmann. Mit den 20 000 Naira, umgerechnet 120 Euro, die er monatlich verdient, kommt der Vater eines drei Jahre alten Mädchens kaum über die Runden.
Die Preise vieler Lebensmittel haben europäisches Niveau. Die Mehrheit der Nigerianer muss mit weniger als 30 Euro im Monat auskommen. Wer über einen Hochschulabschluss verfügt, sucht sein Glück in Europa, vor allem in Großbritannien. In London praktizieren die Ärzte, die in Nigeria fehlen. »Wir suchen dringend Fachärzte«, sagt Wolfgang Trappe, der mit seinem Unternehmen fahrende Arztpraxen im Hinterland organisiert und in diesem brain drain ein großes Problem sieht.

»Hier eine Arbeit zu finden, ist ein Kunststück«, klagt Victor Akpala. Der 34jährige lebt etwa zwei Stunden von Lagos entfernt. In seine Heimat im Südosten Nigerias wagt er sich nicht mehr zurück. Seit dem Biafra-Krieg von 1967 bis 1970 schwelt der Konflikt um die Unabhängigkeit der Region. Die Separatistenbewegung Movement for the Actualization of the Sovereign State of Biafra (Massob) liefert sich seitdem einen zähen Untergrundkampf mit der nigerianischen Armee. Als Mitglied der Massob musste Victor fliehen. Er will sein Wirtschaftsstudium fortsetzen, ohne Geld ein unmögliches Unterfangen. In Nigeria muss selbst ein guter Schulabschluss in barer Münze bezahlt werden. Das Land hat nach Angaben von Transparency International eines der korruptesten Staatswesen der Welt. Ohne Bestechung läuft nichts – ob bei täglichen Polizeikontrollen, nervenaufreibenden Ämtergängen oder der Studienplatzvergabe. Eine Busreise nach Abuja, seit 1991 Hauptstadt Nigerias, unterbrochen von zahlreichen Zwangspausen: Armee und Polizei verlangen von den Reisenden Passiergeld.

Die Fahrt von Mathias Jona nach Kano dauerte 15 Stunden. Obwohl er aus dem Niger-Delta stammt, hat er sich in die zweitgrößte nigerianische Stadt im muslimischen Norden des Landes zurückgezogen. Auch er wurde aus Luxemburg abgeschoben. »Als ich in Lagos ankam, besaß ich nichts«, berichtet er. »Ich schlief zwei Nächte auf der Straße.« Ein Bekannter habe ihm Geld für den Bus geliehen. Mittlerweile lebt Mathias bei seiner Cousine. In den nördlichen Bundesstaaten herrscht die Sharia, das islamische Recht. Die Angst vor einem erneuten Ausbruch des religiösen Konflikts sorgt den Katholiken ebenso wie seine persönliche Situation. Der Traum von Europa ist vorerst ausgeträumt. In Kano möchte Mathias mit Kosmetikartikeln handeln. Doch dafür benötigt er Startkapital. Ihm geht es wie vielen Zwangsrückkehrern: Sie gelten als gescheitert. Dass sie in Europa nicht reich geworden sind, glaubt ihnen niemand. Nicht selten haben ganze Familien oder Dorfgemeinden zusammengelegt, um einen, auf dem ihre Hoffnung ruht, ins vermeintliche Paradies zu schicken. Die Auswanderer gehören zu den wichtigsten Devisenbringern. »Viele waren enttäuscht«, erzählt Mathias. »Sie hatten erwartet, dass ich etwas mitbringen würde.«
In seine Stadt am Niger-Delta kann Mathias nicht zurück, nachdem mehrere Mitglieder seiner Familie getötet worden sind. Seine Frau und seine beiden Kinder sind verschwunden. Morde, Sabotageaktionen und Anschläge auf Förderanlagen sind im erdölreichen Delta ebenso üblich wie die Entführung von Mitarbeitern ausländischer Firmen. Die meisten werden gegen Lösegeld wieder freigelassen. Oft kommt es zu Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen. Neben den zwei größten Rebellengruppen, der Niger Delta People’s Volunteer Force und dem Movement for the Emancipation of the Niger Delta, deren Forderungen von einer Beteiligung der Einheimischen an den Gewinnen aus den Ölgeschäften bis hin zur Auflösung des nigerianischen Staates reichen, sind etwa 20 weitere bewaffnete Organisationen und Banden aktiv.
Vom Erdölboom haben die meisten Nigerianer nicht profitiert. Die Landwirtschaft wurde ver­nachlässigt, so dass Grundnahrungsmittel wie Reis importiert werden müssen. Weitere Folgen sind Inflation und Landflucht. Der angebliche Segen des Erdöls hat sich als Fluch erwiesen. Seit Jahren bohren ausländische Konzerne im Delta und in der Bucht von Guinea gegen Lizenzgebühren nach Öl. Zwar stammen etwa 90 Prozent der Deviseneinnahmen aus der Ölförderung. Den­noch herrscht im Land selbst Benzinknappheit, weil die Raffinerien in einem desolaten Zustand sind. Pipelines verlaufen durch Dörfer und Äcker. Wasser und Luft sowie Grundnahrungsmittel sind verseucht. Vor kurzem explodierte in einem Vorort von Lagos wieder eine Benzinleitung. Mehr als 100 Menschen starben: Treibstoffdiebe hatten die Leitung angebohrt.
Vor den Ölabfüllstationen in Apapa, im Süden von Lagos, warten Hunderte von Tanklastern. Fast täglich bricht der Verkehr zusammen. Auf den Stadtautobahnen bilden sich Kilometer lange Staus. Die Abgase tauchen die Lagunenstadt in eine Dunstglocke. Wer fünf Kilometer fahren muss, braucht manchmal drei Stunden. Oder er steigt auf eine Okada um, eines jener frisierten Moped-Taxis, die sich mit ihren Fahrgästen durch die Blechlawinen schlängeln. Nur selten taucht Polizei auf, um den Verkehr zu regeln. Unterdessen schlägt die Stunde der fliegenden Händler: Zwischen den Autoreihen verkaufen sie alles Erdenkliche wie Softdrinks, Erdnüsse, Kekse, Spielzeug, Feuerlöscher, Bücher und Zeitungen, aber auch Bügelbretter und Gemälde. Etwa vier Fünftel der lagocians sind im informellen Sektor tätig. Am Straßenrand zeugen Leichen von Unfällen und Überfällen. Ein Schild mit einem Totenkopf fordert auf, die leblosen Körper schnell zu entfernen.

Lagos ist und bleibt Nigerias Dreh- und Angelpunkt für Handel, Wirtschaft und Kultur. Hier ist auch »Nollywood« beheimatet, die nigerianische Film- und Fernsehindustrie, die ganz Afrika mit billigen Seifenopern beliefert. Abertausende importierte Gebrauchtwagen aus Europa landen per Schiff auf den gigantischen Automärkten. Zudem ist die Metropole das afrikanische HipHop-Mekka. Einer der bekanntesten nigerianischen Rapper ist Eedris Abdulkareem. Einer seiner Hits heißt »Jaga Jaga«, was auf Yoruba so viel wie »Durcheinander« heißt. Für die einen ist Lagos ein kreatives Chaos, für die anderen ist die anarchische Metropole einfach unregierbar. Eine über­geordnete Stadtregierung gibt es nicht, Lagos ist in 16 lokale Regierungsbezirke unterteilt. Die Infrastruktur ist zerfallen, das Stromnetz bricht regelmäßig zusammen. Die nationale Stromgesellschaft Nepa wird scherzhaft »Never Expect Power Always« genannt. Während in den zahlreichen streng bewachten Gated Communities – wo die Miete für eine Drei-Zimmer-Wohnung bis 50 000 Euro jährlich kostet – gigantische Dieselgeneratoren brummen, gehen in den Wellblechhütten der Slums immer wieder die Lichter aus. Die Müllberge wachsen unaufhörlich. Die Wassergräben dienen als Abfalleimer, was bei starkem Regen zu Überschwemmungen führt. La­gos bietet in vielerlei Hinsicht einen Vorgeschmack auf die Apokalypse. Die Stadt befindet sich dauernd am Rande des Zusammenbruchs.
Die Stadtviertel und Märkte werden von Area Boys kontrolliert. So werden die Mitglieder von Jugendgangs genannt. Sie leben unter anderem von bewaffneten Raubüberfällen und Schutzgelderpressung. Für die Mächtigen sind die Area Boys nur Handlanger aus dem riesigen Heer arbeitsloser Jugendlicher, die sich leicht für politische Zwecke kaufen lassen und Straßenschlach­ten anzetteln. In ihrem Viertel sind sie die Könige. In Lagos Island, wo Tope und seine Freunde von der Armee festgehalten werden, sind sie die Retter in der Not. Der junge Nigerianer hat einige Schläge einstecken müssen. Ein Soldat zwingt ihn niederzuknien. Im Nu haben sich einige Area Boys eingefunden. Sie beginnen, zwischen den Uniformierten und den unerwünscht in ihr Revier Eingedrungenen zu vermitteln. Ein Preis wird ausgehandelt. Gegen ein paar tausend Naira lassen sich die Soldaten erweichen. Die Fremden dürfen gehen. Als Tope ins Auto steigt, ist er außer sich. »Das ist Nigeria«, sagt er wütend. »Hier gibt es keine Demokratie.« Die Willkür lässt nur wenig Spielraum zwischen Freiheit und Unterdrückung. Während Tope und seine Freunde davonfahren, verteilen die Soldaten einen Teil des Geldes. Den Rest bekommen die Area Boys. Ihr Eingreifen hat sich gelohnt.