Sommermärchen, Patriotismus und Ökonomie

Wer will noch ein Sommermärchen?

Nach der EM ist vor der EM: 2012 richten Polen und die Ukraine das Ereignis aus. Sie können eher patriotische Begeisterung denn finanzielle Gewinne erwarten.

Die Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz ist vorüber, und alle bis auf die Spanier trösten sich damit, dass in vier Jahren erneut die Chance auf Titelgewinn und Pokalstemmen besteht. Wie in diesem Jahr werden 2012 mit Polen und der Ukraine wieder zwei Länder, die weder politisch noch ökonomisch zu den führenden europäischen Nationen zählen, die Meisterschaft ausrichten.
Auch 2012 setzt man, wie in diesem Jahr, auf die Kombination eines EU-Mitglieds (Österreich bzw. Polen) und eines Nicht-EU-Mitglieds (Schweiz bzw. Ukraine). Und, das ist bei einer Fußball-EM ja nicht ganz unwichtig, in beiden Fällen kann keine der Nationen für sich in Anspruch nehmen, gegenwärtig fußballerisch Großes zu leisten. Gleichwohl, auch das eine Gemeinsamkeit, hat in beiden Fällen je ein Land, jeweils das zur EU gehörige, eine große fußballerische Vergangenheit: Österreich war in den zwanziger und dreißiger Jahren eine der größten Fußballnationen der Welt, Polen in den siebziger und acht­ziger Jahren.
Anders als beispielsweise die Olympischen Spiele, die nicht an Länder, sondern an Städte vergeben werden, die ihrerseits die Finanzierung eines solchen Großereignisses mit Hilfe von Investoren sicherstellen, sind Fußball-Welt- und Europameisterschaften politische Veranstaltungen im klassischen Sinne: Staaten bemühen sich darum, sie ausrichten zu dürfen, Staatshaushalte werden für den Stadionbau, die Bereitstellung der Infrastruktur, die Gewährleistung der Sicherheit etc. belastet.
Daneben gibt es zwar ein großes Engagement von Weltkonzernen, die als Sponsoren auftreten, aber die unterstützen den europäischen Fuß­ballverband Uefa, der wiederum den Nationalstaaten vielfältige Verpflichtungen auferlegt.
Oft kommt es während der Veranstaltungen zur temporären Aufhebung bestimmter Rechte: In den österreichischen und schweizerischen Städten, in denen Spiele stattfanden, wurden je­weils in den Innenstädten Uefa-Fanzonen eingerichtet, in denen alle Hinweise auf Marktkonkurrenten der Hauptsponsoren untersagt waren. Und die Schweiz musste auf eine Forderung der Uefa eingehen und das Steuerrecht ändern. Das sieht nämlich eine Quellensteuer vor, nach der beispielsweise ausländische Profifußballer bis zu einem Drittel ihres im Land erzielten Einkommens versteuern müssen. Die Uefa forderte die Abschaffung des Gesetzes, man einigte sich in einem Kompromiss auf eine nur während der EM geltende Quellensteuer von 20 Prozent.
In vielen Bereichen, etwa dem des Stadionbaus, gibt es oftmals keine sinnvolle Nachnutzung für die Investitionen, die überwiegend von der öffentlichen Hand getätigt werden. Der Zuschauerschnitt der österreichischen Bundesliga beträgt beispielsweise 8 000 zahlende Besucher pro Spiel, die WM-Stadien fassen jedoch 30 000 bis 50 000 Zuschauer.
Der Effekt, den Staaten, zumal eher kleine und ökonomisch nicht so starke wie die Ukraine, sich erhoffen, wenn sie ein solches Groß­ereignis ausrichten, muss also woanders gesucht werden. »Sommermärchen«, das ist der Begriff, der sich seit noch nicht allzu langer Zeit eingebürgert hat für die politisch sehr gewollten innergesellschaftlichen Funktionen, die ein Ereignis wie eine Fußball-EM oder WM haben soll. Der von der Bild-Zeitung ausgerufene »schwarz-rot-geile « Sommer der WM 2006 sorgte für eine in diesem Umfang nicht mal im Wiedervereinigungs- und Fußball-WM-Jahr 1990 zu konstatierende Bereitschaft in der deutschen Bevölkerung, sich na­tional zu definieren und nationaler Symbole zu bedienen. Das war nicht, wie man 2006 tat, spontan entstanden, sondern entsprang, wie man bereits seit 2005 hätte wissen können, einem benennbaren politischen Kalkül. Der SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte sich, bis er sich aufgrund innenpolitischer Zwänge zu einem verfrühten Termin zur Wahl des Bundestags gezwungen sah, auf einen Popularitätsschub eingestellt, den ein gutes Abschneiden der deutschen Mannschaft bei der WM für ihn und für seine Politik des Sozialabbaus bedeuten könnte.
Bundestrainer Jürgen Klinsmann, der die noch zwei Jahre zuvor darniederliegende Mann­schaft in einem von heftiger Kritik begleiteten Prozess modernisierte – erinnert sei an die »Grinsi-Klinsi«-Kampagne der Bild-Zeitung –, stellte sich offensiv an die Seite Schröders: Die WM habe eine große »gesellschaftliche Bedeutung«, bei der wir »der Welt zeigen könnten, wer wir wirklich sind«. Ein gutes Abschneiden der deutschen Mannschaft bei der WM war vorher keinesfalls sicher.
Zu den Besonderheiten, die Klinsmann gegen den Widerstand der rechtskonservativen Presse durchsetzte, gehörten moderne, wissenschaftlich geleitete Trainingsmethoden, bei denen er sich auch der Hilfe amerikanischer und schweizerischer Experten versicherte. Außerdem lehnte Klinsmann jede Fixierung auf nationalbornierte Personalpolitik ab: Unter Klinsmann spielten so viele Spieler mit migrantischem Familienhintergrund wie noch nie in der Geschichte des deutschen Fußballs.
Die nationale Begeisterung, die Deutschland im Sommer 2006 erfasste, bedurfte bestimmter sportlicher Impulse. Das Vorrundenspiel gegen Polen, das Deutschland durch ein in der Nachspielzeit erzieltes Tor 1:0 gewann, bewirkte eine Initialzündung. Wer will, kann in dieses Tor eine große symbolische Bedeutung legen: Der schwarze Deutsche David Odonkor hatte eine Flanke geschlagen, die der in der Schweiz geborene Oliver Neuville verwandelte. Die beiden begründeten aufgrund ihrer Nützlichkeit fürs nationale Kollektiv einen moderneren Nationalismus.
Der Begriff »Sommermärchen« umschreibt auch das politische Kalkül, das Österreich und die Schweiz umtrieb, als sie sich – auf Initiative der Schweiz – gemeinsam um die Ausrichtung des Turniers bewarben. Eine Welle des Patriotismus kommt prinzipiell jeder Staatsregierung zupass. Andere Effekte, von denen vorher geschrieben wurde, stellen sich eher nicht ein. »Fußball-EM bringt Schweizer Wirtschaft nichts«, titelte die Welt, »EM-Sponsoren von Konsumenten ignoriert«, ermittelte ein österreichisches Marktforschungsinstitut, und von den Infrastruktureffekten wird vermutlich nur die Verlängerung der Wiener U-Bahn zum Ernst-Happel-Stadion übrig bleiben – dabei kommen selbst zu den Derbys zwischen Rapid und Austria nur noch gerade mal 10 000 Fans.
Auf die sportliche Voraussetzung des »Sommermärchens« hatte man in der Schweiz und Österreich gleichermaßen gehofft. Schließlich war auch zwei Jahre zuvor Deutschland nicht gerade als Favorit ins Turnier gegangen. Und ähnliches galt ja auch bei der WM 2002 für die Gastgeber Südkorea und Japan, die beide weit kamen.
Die Schweiz, immerhin, hat in den vergangenen Jahren mit vorbildlicher Nachwuchsförderung auch eine gute Fußballergeneration hervorgebracht, und zwar eine, die sich sehr stark auf Migranten stützt. Dass es bei der Europameisterschaft nicht klappte, hat vermutlich Ursachen jenseits der Nachwuchsförderung. Ähnlich wacklig und gleichzeitig hoffnungsfroh stehen Polen und die Ukraine da. Die jeweiligen Ligen sind schwach, die besten polnischen Fußballer zieht es in die deutsche, die besten ukrainischen in die russische Liga. Die Investitionen, die von beiden Ländern erwartet werden – und die nur zu einem kleinen Teil von Sponsoren getragen werden –, sind hoch, die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich rentieren, ist sehr gering.
Aber wenn, dann ist der Effekt gewaltig. Ein Sommermärchen, wir sind wieder wer, eine Nation im symbolpolitischen Mittelpunkt der Welt. Davon träumt man in Polen und der Ukraine. Träumen allerdings genügt nicht. Der Uefa-Präsident Michel Platini mahnte den Stadionbau bzw. -umbau in den beiden Ländern an: »Wir haben den Ländern vier Monate Zeit gegeben. Im September ist diese Frist abgelaufen – dann werden wir ja sehen.« Dann nämlich will die Uefa endgültig entscheiden, ob die beiden Länder in der Lage sind, die Spiele auszutragen.