Großbritannien und die Sharia

Zusammenspiel der Patriarchen

Der zweithöchste Richter Großbritanniens will die Sharia im Familienrecht anwenden. Dem Establishment gilt die Religion wieder als willkommene Kontrollinstanz.

Den Anfang machte Rowan Williams, Erzbischof von Canterbury und Oberhaupt der anglikanischen Kirche. Im Februar forderte er eine »konstruktive Aufnahme einiger Aspekte des muslimischen Gesetzes« in die britische Rechtsprechung. Am Freitag voriger Woche meldete sich der nächste Partriarch zu Wort. Nicholas Addison Phillips, als Lord Chief Justice zweithöchster Rich­ter des Landes, sieht »keinen Grund, warum die Sharia oder andere religiöse Regeln nicht die Basis für eine Schlichtung oder andere Formen der Konfliktlösung sein sollten«.
Wie Williams will Phillips die Anwendung der Sharia auf das Familienrecht beschränken. Beide lehnen die koranischen Körperstrafen ab, hier gebe es »weit verbreitete Missverständnisse« über das Wesen der Sharia, meint der Richter. Tatsächlich ist die Sharia, eigentlich »der Weg«, kein kodifiziertes Gesetzbuch, sie umfasst auch ethische Gebote und anderes mehr. Viele Regelungen sind unter den Religionsgelehrten umstritten. Doch abgesehen davon, dass die »Missverständnisse« Grundlage der Rechtsprechung in Ländern wie Saudi-Arabien und dem Iran sind, bleibt im vermeintlich unpolitischen Familienrecht ein Kern von weitgehend unumstrittenen reaktionären Vorschriften, die gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen. So darf eine Frau keinen Nicht­muslim heiraten, die Scheidung kann sie nur aus bestimmten Gründen initiieren, etwa bei erwiesener Impotenz des Mannes. Der Mann erhält fast immer das alleinige Sorgerecht für die Kinder. Seine Töchter erben nur die Hälfte dessen, was die Söhne erhalten.
Phillips will britische Gerichte mit der Durchsetzung der gemäß der Sharia getroffenen Vereinbarungen betrauen. Geschädigt würden überwie­gend Frauen und Kinder. Eine britische Kommission, die Daten über Zwangsheiraten sammelt, stellte jedoch im vergangenen Jahr fest, dass 15 Pro­zent der Beschwerden von Männern kamen, denen mit Drohungen oder Gewalt eine Ehe aufgezwungen wurde. Von Freiwilligkeit kann in autoriären Familienverhältnissen nicht die Rede sein, am wenigsten bei jenen, die kein unabhängiges Einkommen haben.
Die islamistischen und konservativen Organisationen waren erwartungsgemäß erfreut über Phillips’ Äußerungen. Doch sehr viele der angeblich 1,7 Millionen britischen Muslime – wie in Deutschland werden meist alle in islamischen Ländern Geborenen oder in muslimischen Familien Aufgewachsenen umstandslos zu Gläubigen erklärt – wollen mit der Sharia nichts zu tun haben.
Phillips wird sich vorläufig nicht durchsetzen können. Dass zwei der bedeutendsten Patriarchen des britischen Establishments sich für die Sharia aussprachen, stärkt jedoch islamistische und reaktionäre Patriarchen gegenüber den Säkularisten, einschließlich religiöser Gruppen wie Imaan, die für die Rechte homosexueller Muslime kämpfen. Das ist wohl auch der Sinn der Sache. Auch der Einfluss christlicher Organisationen soll wachsen, unter dem Motto »Believing for a Better Britain« will die Regierung religiösen Gruppen neue Privilegien im Bildungs- und Sozialsystem gewähren. Da wachsende Armut und eine Wettbewerbsideologie, die schon Fünfjährige zu Konkurrenten macht, allerlei unerwünsch­te soziale Folgen haben, steigt der Bedarf an mög­lichst kostengünstigen Kontrollinstanzen, die die Bevölkerung disziplinieren.