Autonomisten im Machtkampf mit der linken Regierung in Bolivien

Der Kolla und die Bayern der Anden

Die Autonomisten in den reicheren Regionen Boliviens haben großen Rückhalt in der Bevölkerung. Im Machtkampf mit der linken Regierung soll im August ein Referendum die Entscheidung bringen.

Wenn Evo Morales aus dem Flugzeug steigt und den Boden von Santa Cruz betritt, überkommt ihn ein Gefühl von Unsicherheit. Das erzählt Ra­fael Puente, Vertrauter des Präsidenten und ehemaliger stellvertretender Innenminister. Unsicher fühle sich Morales nicht nur, weil er in der Metropole im Osten des Landes schon mal von den »Cambas« – so nennen sich die überzeugten Cruzeños – auf offener Straße angefeindet wurde, sondern auch, weil er sich dort fremd fühle. Das ganze Regierungsteam stamme aus dem Hochland und habe Schwierigkeiten, das Tiefland und dessen Bewohner überhaupt zu verstehen. Morales’ Programm des »gesellschaftlichen Wandels«, das er seit 2006 vorantreibt, trage den »kulturellen Stempel der Anden«, und »die wenigen Cambas in der Regierung sind doch nur Verzierung«, sagt Puente selbstkritisch. Die Regierung in La Paz sei »viel zu Kolla«. »Kolla« werden die Hoch­land­bolivianer genannt.

Gefährlich kann es werden, wenn Caudillos, loka­le Anführer, an der Tür des Präsidentenpalastes abgewiesen oder bei der Ämtervergabe übergangen werden – vor allem, wenn sie aus einer reichen Region wie Santa Cruz kommen. 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden dort erwirtschaftet, 34 Prozent aller bolivianischen Exporte kommen aus der Region. Der größte Teil der Öl- und Erdgasvorkommen liegt im Südosten Boliviens, zu dem auch Santa Cruz gehört.
Im Mai wurde das Autonomiestatut des Depar­te­ments Santa Cruz per Referendum angenommen, in den Departements Beni, Pando und Tarija entschied sich ebenfalls eine Mehrheit für die Autonomie. Der Vizepräsident Alvaro García betont zwar, es handele sich dabei bloß um »Umfragen« ohne jede rechtliche Bedeutung. Doch die vier Regionen grenzen sich politisch immer weiter von der Regierung in La Paz ab.
Als Morales Ende Mai zum 199. Gründungstag des Departements Chuquisaca in die Hauptstadt Sucre kommen wollte, verhinderte eine tobende Menge seine Teilnahme an den Feierlichkeiten. Der Präsident sagte seinen Besuch kurzfristig ab. In Sucre zeigte die Oppositionsbewegung auch ihre unschöne Seite: Ein Mob von Menschen, die Morales und seine Politik ablehnen, umzingelte rund 50 der Regierung nahe stehende Kollas, zwang sie, sich auszuziehen, auf Knien um Verzeihung zu bitten und den sucrenischen Boden zu küssen. Hochlandbewohner werden auf Sucres Straßen häufig in rassistischer Weise beschimpft, ganz gleich, ob sie Abgeordnete oder Bauern sind. Auch in Santa Cruz kommt es regelmäßig zu ähn­lichen Vorfällen. Die Organisation der Autonomis­ten, das Zivile Komitee pro Santa Cruz, unterhält rechtsextreme und gewalttätige Banden wie die Cruzenische Jugendunion, die sie gezielt für Provokationen einsetzt.

Immer wieder drohten die Autonomisten mehr oder weniger direkt, die ganze Region vom bolivianischen Staat abzuspalten. Vom »Kosovo der Anden« war die Rede, doch seit Anfang des Jahres betonen die cruzenischen Anführer die Unantastbarkeit der Nation. »Autonomie bedeutet die Einheit Boliviens«, sagte der cruzenische Präfekt Ruben Costas. Die Autonomie solle eine Staatsreform einleiten, die ganz Bolivien zugute käme. Der Senatspräsident von der konservativen Oppositionspartei Podemos, Oscar Ortíz, sieht darin etwas ganz Natürliches. »Die Autonomie-Referenden schaffen neben der Zentralregierung eine zweite Regierungsebene in den Departements, ähnlich wie es sie in Föderalsystemen gibt, beispielsweise in Deutschland«, sagt der Camba. Nicht das Kosovo, sondern eher Bayern wäre der richtige Vergleich.
Bereits Nuflo de Chaves, der spanische Conquis­tador, der 1561 die Stadt Santa Cruz gründete, habe gegen König Philipp II. rebelliert, sagen die Autonomisten. Ihre Bewegung beruft sich auch auf einen Mythos des wirtschaftlichen Erfolgs: Eine noch in den fünfziger Jahren vergessene Region entwickelte sich zur wirtschaftlich stärksten des Landes – aus eigener Kraft, wie die Cambas gerne behaupten.
Doch die Region hat lange Zeit von Zuwendungen der Zentralregierung profitiert. Vor allem in den neunziger Jahren pumpten die Regierungen in La Paz viel Geld in die Region. Santa Cruz erhielt rund 20 Prozent aller öffentlichen Inves­ti­tio­nen, mehr als jedes andere der neun Departements. Überdies profitierten die strukturschwachen Departements von den Einnahmen aus dem Bergbau im Hochland.
Das politische Establishment der nunmehr wohl­habenden Region lehnt das sozialistisch inspirierte Programm von Morales ab. Propagiert wird ein liberal-kapitalistisches Programm, in dem die Freiheit des Einzelnen und der Unterneh­mer an erster Stelle steht, aber auch sozialstaat­liche Regelungen versprochen werden. In Santa Cruz wurden die Einführung einer Kranken­ver­sicherung und Wohnungsbauprogramme angekündigt. Im Juli wurde der Mindestlohn auf umgerechnet 90 Euro erhöht, im Rest des Landes beträgt er derzeit 52 Euro.

Doch die Oligarchie der Cambas besteht vor allem aus Großgrundbesitzern und Agrarunternehmern, die vom Rechtsstaat wenig halten. Sie sichern ihren Profit nicht durch wachsende Produk­tivität und die Verwendung moderner Technologie, sondern durch die häufig illegale Expansion ihrer Ländereien. Um das zu gewährleisten, müssen sie bestimmte staatliche Positionen besetzen: Eine zentrale Autonomieforderung ist, dass künftig nicht mehr die Regierung in La Paz, sondern der Gouverneur von Santa Cruz Landtitel vergibt. Viele Großgrundbesitzer halten noch immer die Dorfbewohner in halbfeudalen Abhängig­keitsverhältnissen, »gefangene Familien« nennt sie der dort tätige Deutsche Entwicklungsdienst. Der Kampf gegen Morales ist nicht zuletzt ein Kampf gegen die Landreform, die solche Zustände beenden soll.
Der aufkeimende politische Konflikt zwischen Menschen, die sich nach ihrer »ethnischen« Zugehörigkeit gruppieren, ist zwar häufig von großer Symbolik, wird aber der Realität kaum gerecht. Die Kollas im Hochland fühlen sich mit der Aymara- und Ketschuageschichte verbunden, während Santa Cruz mit seinen Tiefland-Indianern, Weißen und migrierten Kollas eher mit einem glo­balisierten melting pot verglichen werden kann. Bedeutsamer sind die Unterschiede in der politischen Organisation. Im Hochland dominieren bis in das kleinste Dorf hinein nach wie vor die Gewerkschaften und indigene Gemeinden, die so einen Großteil des Territoriums kontrollieren. Auf sie und die städtischen sozialen Bewegun­gen stützt sich Morales. In Santa Cruz hingegen spielen Gewerkschaften und soziale Bewegungen kaum eine Rolle, die Organisationen der Tiefland-Indianer sind traditionell unabhängiger von der Linken und teilweise gespalten.
Die Konfrontation zwischen der Zentralregierung und den Autonomisten blockiert die bolivianische Politik. Um eine Entscheidung zu erzwin­gen, haben beide Seiten einem landesweiten Referendum zugestimmt. Am 10. August hat die Bevölkerung die Gelegenheit, den Präsidenten, aber auch alle Präfekten der Departements abzuberufen. Sollten die Bolivianer sich gegen Morales entscheiden, »dann gehen wir eben«, sagte Ri­cardo Diaz, Senator der Regierungspartei Mas (Bewegung zum Sozialismus). Da sowohl die Kolla-Regierung als auch die Camba-Oligarchie in ihren jeweiligen Hochburgen großen Rückhalt in der Bevölkerung haben, ist es aber auch möglich, dass beide in ihren Ämtern bestätigt werden und der Machtkampf nach dem Referendum weitergeht.