Russisch-Orthodoxe im Kampf gegen rote Sterne

Der Adler soll wieder landen

Die orthodoxe Kirche strebt eine ideolo­gische »Neuorientierung« der russischen Gesellschaft an. Zuerst sollen Symbole der Sowjetunion beseitigt werden.

Die fünfzackigen roten Sterne auf den Moskauer Kremltürmen sind nur schwer wegzudenken. Stets erleuchtet, gehören die Mitte der dreißiger Jahre in der Hochzeit des Stalinismus montierten Symbole der einstigen Weltmacht Sowjet­union nicht nur zum Wahrzeichen der Hauptstadt, sie prägten das Bild einer ganzen Epoche. Sie fügen sich in das Architekturensemble des Kremls ein und haben sogar den Übergang zum Kapitalismus unbeschadet überstanden. Aber nun sollen sie entfernt werden, fordert die russisch-orthodoxe Kirche.
Georgij Rjabych, der für die Beziehungen zwischen orthodoxer Kirche und Gesellschaft zuständige Sekretär der Abteilung für Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats, sagte Mitte Juli, es sei nur gerecht, an Stelle der Sterne die alten Doppeladler an ihrem angestammten Platz wieder zu errichten. Der russische Adler hat zwei Köpfe, weil er die Einheit von geistlicher und welt­licher Macht symbolisiert, und eben deshalb schät­zen ihn die orthodoxen Geistlichen. Rjabych befürwortet auch die Umbenennung der Metrostationen »Wojkowskaja«, die den Namen eines an der Erschießung der Zarenfamilie Beteiligten trägt, und »Kropotkinskaja«. »Ich denke nicht«, sagte Rjabych, »dass die neue Generation in der Person von Kropotkin, dem Begründer des Anarchismus, ein gutes Vorbild findet. Wir benötigen Staatsanhänger und keine Anarchisten.«
Die orthodoxe Kirche will eine Wertedebatte initiieren, um eine ideologische »Neuorientierung« der russischen Gesellschaft voranzutreiben. Für das jüngste Vorhaben wählte das Moskauer Patriar­chat sicherlich nicht zufällig einen Zeitpunkt unmittelbar vor den Feierlichkeiten anlässlich der Erschießung der Zarenfamilie vor 90 Jahren, am 17. Juli 1918. Die Medien bereiteten das Spektakel entsprechend auf und pünktlich zu dem Großereignis stellte ein Gutachten sogar die bislang angezweifelte Echtheit der gefundenen Gebeine fest.

Manchen Geistlichen ist die Kirchenführung den­noch nicht konservativ genug. Ende Juni enthob die Synode Diomid, den Bischof von Tschukotka und Anadyr, vorläufig seines Amtes. Ihm wird vor­geworfen, dass seine Handlungen auf die Spal­tung der Kirche zielen. Der fundamentalistische Geistliche hatte die Kirchenoberen wiederholt heftig kritisiert. Aus Diomids Sicht ist es verwerflich, dass die Kirche einen Dialog mit der russischen Regierung und anderen Konfessionen führt. Selbst lehnt der überzeugte Monarchist kategorisch nicht nur jegliche Beziehungen zu Andersgläubigen ab, er verteufelt auch das moderne Passwesen und die Nutzung von Mobiltelefonen.
Der Entzug von Amt und Würden brachte Diomid zunächst einige Popularität, das scheint ihn zur Gegenoffensive ermuntert zu haben. Mitte Juli verhängte er einen Bann gegen die Kirchen­füh­rung und schuf damit einen Präzedenzfall. Zwar wurde der Kirchenbann in der jüngsten Geschichte nicht zum ersten Mal ausgesprochen, aber die Regeln der orthodoxen Hierarchie sehen nicht vor, dass ein untergeordneter Bischof diese Sanktion gegen seinen Vorgesetzten verhängt. Dass ein Geistlicher den Patriarchen auf diese Weise angreift, wäre noch vor kurzem undenkbar gewesen. Zunächst konnte man im Moskauer Patriarchat diese Dreistigkeit gar nicht fassen und bezeichnete den Brief, in dem Diomid den Bann verkündete, als Fälschung. Am 2. September will die Synode nun über den Entzug des Bischofstitels entscheiden. Sollte der Abtrünnige keine Reue zeigen, wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als seinen weiteren Weg ohne den Segen des Moskauer Patriarchats zu gehen.

Es wäre die spektakulärste, aber nicht die erste Abspaltung von der russisch-orthodoxen Kirche. Die Abtrünnigen müssen im Extremfall sogar mit staatlichen Sanktionen rechnen. Im April dieses Jahres sprach ein Gericht in Suzdal der russisch-orthodoxen autonomen Kirche die Rechte an der Nutzung ihrer Kirchengebäude ab. Hier wäscht eine Hand die andere. Die Kirche bietet dem Staat ihre Dienstleistungen an und kann sich dessen Gunst in den meisten Fragen sicher sein. Dass in Zukunft auch Geistliche, die bislang vom Militärdienst freigestellt waren, in der Armee dienen sollen, weil die Zahl der Wehrpflichtigen immer weiter sinkt, stellt eher eine Ausnahme dar.
In ihrem Selbstverständnis bezieht die russisch-orthodoxe Kirche ihre Legitimität aus ihrer staats­tragenden Funktion. Um ihre Bedeutung gebührend hervorzuheben, gibt sie den Anteil der Gläu­bigen im Land gerne mit 85 Prozent an. Religiöse Fanatiker glauben sogar, es gebe eine genetische Veranlagung der Russen für die Orthodoxie. Legt man die ungefähre Zahl der Kirchgänger zugrunde, bleiben bestenfalls drei Prozent Gläubige übrig. Selbst der Patriarch Aleksij II. gab vor einigen Jahren zu, dass die Kirchen im Vergleich zu den neunziger Jahren leer seien und dies nicht allein daran läge, dass den Gläubigen nun eine grö­ßere Anzahl von Kirchen zur Verfügung stehe. Niemand verfügt indes über genaue Angaben, die Umfrageergebnisse schwanken je nach Art der Fragestellung. Die Hälfte der russischen Bevölkerung fühlt sich der russisch-orthodoxen Kultur zugehörig, was immer sie darunter auch verstehen mag.
Um diese alles andere als befriedigende Ausgangslage zu verbessern, will die Kirchenleitung nun das Bildungssystem beeinflussen. Da Russland sich als rein säkularer Staat definiert, ist Religionsunterricht an staatlichen Schulen nicht vorgesehen. Dafür existieren zahlreiche religiöse Einrichtungen. Seit dem Jahr 2006 gibt es jedoch in ausgewählten Regionen Unterrichtseinhei­ten zum Thema »Grundlagen der orthodoxen Kultur«, die verpflichtend für alle Schüler sind und in denen die drei anderen offiziell anerkannten Religionen, Islam, Buddhismus und Judentum, höchs­tens als Abweichungen von der wahren Religion Erwähnung finden.

Die Kirche bildet eigene Lehrkräfte für das neue Fach aus und unterläuft damit de facto das Säkularitätsgebot. Die sukzessive Ausweitung auf alle Schulen im gesamten Land stößt jedoch auf immer stärkere Kritik in den betroffenen Regionen, hauptsächlich bei Vertretern anderer Konfessionen. Die Kirche greift nicht nur in die Schulbildung ein, sondern dringt selbst in die staatlichen Kindergärten vor. Schon im frühen Kindesalter sollen beispielsweise Erzählungen aus dem Leben orthodoxer Heiliger auf ein späteres Leben als devoter Staatsbürger vorbereiten. Im Swerdlowsker Gebiet finden anschauliche Pilger­ausflüge zu dem Ort statt, an dem die Zarenfamilie erschos­sen wurde.