Gespräch mit Doug Henwood über die ideologische und ökonomische Situation der USA

Doug Henwood: »Die amerikanische Ideologie ist in einer tiefen Krise«

Seit 1986 gibt der New Yorker Marxist Doug Henwood den linken Wirtschafts-Newsletter Left Business Observer heraus. Sein 1997 veröffentlichtes Buch »Wall Street« wurde derart populär, dass Henwood zeitweise beim amerikanischen Fernsehsender CNN als Börsenkommen­tator beschäftigt wurde. 2003 veröffentlichte er »After the New Economy« und seit 2002 ist er Moderator der New Yor­ker Radiosendung »Behind the News«. Die Show gewann 2005 den Preis für die bes­te Musik einer Sendung über Ökonomie und Politik.

Die Unternehmensergebnisse werden an der Wall Street mittlerweile nicht mehr mit »besser als erwartet« beschrieben, sondern mit »nicht so schlecht wie erwartet«. Lässt sich an diesem sprachlichen Wandel die derzeitige Wirtschaftskrise ablesen?
Es gibt mittlerweile eine eigene Redewendung für die derzeitige ökonomische Situation: »flat is the new up«. Und das ist auch nicht ganz falsch. Denn einige Leute haben das Schlimmste erwartet, aber das hat sich nicht verwirklicht. Die Krise ist bislang nicht in eine Katastrophe abgeglitten, sondern beruhigt worden. Die US-Ökonomie erlebt derzeit gemeinsam mit der ganzen Welt ei­ne Art Krise in Zeitlupe. Die Wirtschaft ist überlastet, der Arbeitsmarkt ist schwach, die Arbeitslosigkeit steigt, etc. Wir werden aber keine großen, schlimmen Zahlen oder wirklich dramatisches Lei­den erleben, sondern eine ausgedehnte Periode ökonomischer Schwierigkeiten. Diese Situation tritt dann ein, wenn Finanzblasen platzen und Regierungen aggressiv versuchen, die Kri­se einzu­dämmen, damit sie sich nicht zu einer großen De­pression ausweitet. Regierungen können zwar selbst keine Prosperität generieren, aber sie haben gelernt, eine Implosion und einen Kollaps abzuwehren. Wir befinden uns mitten in dieser Situation und das wird noch eine Weile so weiter gehen.
Gibt es einen Unterschied zwischen der aktuellen und anderen ökonomischen Krisen in der Geschichte der USA?
Es gibt immer Ähnlichkeiten zwischen den Krisen. Oft handelt es sich um finanzielles Draufgängertum und schlechte Investitionen. Nur das Gebiet ändert sich von Zyklus zu Zyklus. In den achtziger Jahren gab es diese wahnsinnige Manie, Unternehmen zu gründen und sich dafür zu verschulden. Als diese Blase platzte, gab es in den frühen neunziger Jahren eine drei Jahre wäh­rende Rezession. Dann kam die Dotcom-Blase, die nach einer riesigen Börsenspekulation platzte und schließlich Anfang 2000 wieder für einige Jahre in eine Art Rezession mündete. Doch für den ame­rikanischen Markt eher untypisch, verging eine lange Zeit, bis sich dann der Arbeitsmarkt wieder erholte. Dass es nach einer Rezession einen sehr langen Zeitraum mit schwacher ökonomischer Entwicklung gibt, war neu. Zwischen 1995 und 2005 wurde die schwache Konjunktur von der Immobilienblase ein wenig durcheinander gebracht, aber als diese vergangenes Jahr plat­zte, wurde die anhaltende Schwäche der ­Wirt­­schaft sichtbar. Die Immobilienblase wurde also von einem wirtschaftlichen Stimulator zu einem wirt­schaftlichen Hemmnis.
In welchem Verhältnis steht die Finanzkrise in den USA zur Wirtschaftskrise einzelner Sektoren wie der Automobilindustrie?
Sie sind auf verschiedene Weise miteinander verknüpft. Die treibende Kraft in den USA war der Zusammenbruch des Immobilienmarkts. Während dieser Zeit nahmen viele Leute Kredite auf, nicht nur, um Häuser zu erwerben, sondern auch, um ihre Zähne richten zu lassen, ihre Kinder aufs College zu schicken und sich 75-Zoll-Bildschirme zu kaufen. Etwa die Hälfte des amerikanischen Wirtschaftswachstums zwischen 2001 und 2005 basierte direkt oder indirekt auf dem Immobilienmarkt. Niemand stellte Fragen, warum Leute, die eigentlich kreditunwürdig waren, so viel Schulden machen konnten, denn die Wall Street zog aus diesen Kreditgeschäften Profit. Doch jetzt ist das Finanzsystem äußerst vorsichtig geworden. Es werden viel weniger und kleinere Kredite vergeben. Das Finanzsystem hat einen grund­legenden Wechsel von extremem Überfluss und äußerster Sorglosigkeit zu Übervorsichtigkeit und Zurückhaltung vollzogen.
Man sollte sich daran erinnern, dass in den dreißiger Jahren der Rückzug der Kredite mitverantwortlich für die große Depression war. Wenn sich die derzeitige wirtschaftliche Lage weiter schlecht entwickelt, dann wird ein derartiger Kre­ditrückgang der Mechanismus sein, durch den sich die Finanzkrise entscheidend auf die Real­ökonomie auswirken wird. Denn ohne Kredite kann man keine Volkswirtschaft betreiben, es kön­nen keine Bauprojekte finanziert oder Materialien gekauft werden.
In den siebziger Jahren wurde in den USA die Rezession mit Inflationspolitik bekämpft, auch mit dem Ziel, die starke Arbeiterbewegung zu schwächen. Gibt es Anzeichen dafür, dass erneut zu dieser Maßnahme gegriffen wird?
Die Arbeiterklasse ist heute, anders als in den Sieb­zigern, nicht mehr stark organisiert und hat vor allem Angst, den Job zu verlieren. Die Bundesbank Federal Reserve ist besorgt über die Preis­inflation, darüber, wie der Ölpreis die Real­öko­nomie beeinflussen wird, aber sie macht sich kei­nerlei Sorgen über die Militanz der Arbeiterklas­se. Und glauben Sie mir, die Bank beobachtet die Entwicklung des Klassenkampfs sehr genau. Wenn die Zahl der Arbeitslosen abnimmt, werden diese Leute nervös, weil sie glauben, dass das der Ar­beiterklasse mehr Potenzial bringt. Doch die Arbeitslosenrate steigt und daher hat die Federal Re­serve keine Angst.
Angst hat der Staat aber doch vor der Finanzkrise, anders ist die staatliche Unterstützung der beiden kollabierenden Banken Fannie Mae und Freddie Mac doch nicht zu erklären?
Sicher. Die amerikanische Führungsriege liebt es, über das freie Spiel der Kräfte zu reden. Aber wenn ihre eigenen Institutionen und das ganze System bedroht sind, lassen sie das Gerede vom Kapitalis­mus des laissez-faire beiseite und werden zu Interventionisten und handeln wie jeder gewöhnliche Keynesianer auch.
Sollte die Wirtschaftskrise andauern und Barack Obama Präsident werden, wird es dann einen neuen New Deal geben?
Einige Leute glauben, dass Obama eine Art neu ge­borener Franklin Roosevelt ist und projizieren allerlei fortschrittliche Ansätze auf ihn. Ich glaube, dass er sehr umsichtig und sehr zentristisch ist. Wenn die wirtschaftliche Situation sich nicht bessert, wird Obama einem großen Druck ausgesetzt sein. Es wird mit ihm vielleicht nicht gerade einen neuen New Deal geben, aber doch steigende öffent­lichen Ausgaben für die Infrastruktur oder für alternative Energien und ähnliches.
Und mit John McCain?
Das, was er jetzt sagt, und das, was er als Präsident tun würde, sind natürlich zwei verschiedene Dinge. McCains Wirtschaftsprogramm ist im Prinzip nicht nur eine Weiterführung der Strategie von George W. Bush, sondern eine Intensivierung. McCain will weiter darauf setzen, die Steuern zu senken, etwas, was sich keine Regierung in einer Rezession leisten kann; es sei denn, die Ausgaben für das Militär würden reduziert werden, was sicher nicht geschehen wird. McCains ökonomischer Plan ist arithmetisch und politisch nicht durchsetzbar. Die ganze rechte, neoliberale, hyperkapitalistische Strategie hat all ihre ökonomische Stärke und ihren Reiz verloren und ihre natürliche Grenze erreicht. McCain ist ein alter Mann, der ihr sicherlich kein neues Leben einhauchen kann. Leider gibt es derzeit in den USA auch keine starke Linke, die mit neuen Ideen für eine bessere wirtschaftliche Lage sorgen würde.
In welchem Land gibt es denn eine solche Linke?
Ich dachte, die war vergangene Woche in Berlin versammelt und hat Obama zugejubelt. Nein, im Ernst, Obama ist kein Linker. Er dient deshalb als Projektionsfläche, weil die Amerikaner derzeit angesichts ihrer wirtschaftlichen Situation entmutigt und pessimistisch sind, wie seit über dreißig Jahren nicht mehr. Die amerikanische Ideologie ist in einer tiefen Krise.
Meinen Sie damit, dass der American Dream, der Mut zum Risiko, zerstört ist?
Nicht zerstört, aber sicherlich geschädigt. Dabei wurde das Risiko des amerikanischen Unternehmertums noch nie alleine vom Unternehmer getragen. Weder wäre New York heute das, was es ist, wenn der Staat im 19. Jahrhundert die Kanäle nicht gebaut hätte, noch wäre die Computer- oder die Pharmaindustrie heute derart erfolgreich.