Droht ein Putsch der Hamas in der Westbank?

Der Krieg der Bärte

Die Hamas will die letzten Bastionen der Fatah im Gaza-Streifen beseitigen. Als nächstes könnte ein Putschversuch in der Westbank folgen.

Der Bart ist ab. Mehr als 30 Jahre lang pflegte Nafez al-Namnan seinen imposanten Schnurrbart, dann wurde er mit mehr als 150 weiteren Kadern der Fatah verhaftet. Vor der Freilassung Ende Juli unterzogen ihn die Milizionäre der Hamas einer Zwangsrasur, einer Demütigung, die nach Angaben der Fatah im Gaza-Streifen häufiger vorkommt. Die Hamas wiederum beklagte, dass ihre in der Westbank inhaftierten Mitglieder von der Fatah ebenso behandelt werden.
Der Krieg der Bärte gehört zu den harmloseren Formen des palästinensischen Machtkampfes. In einer Gesellschaft, in der ein Bart das fast unverzichtbare Attribut der Männlichkeit ist, kommt die Zwangsrasur jedoch einer symbolischen Kastration gleich. Ungeachtet aller Versöhnungsbemühungen hat sich das Zerwürfnis zwischen Hamas und Fatah vertieft. So kam dann auch ausnahmsweise niemand auf die Idee, Israel zu beschul­digen, als am 25. Juli eine Bombenexplosion am Strand von Gaza fünf Hamas-Mitglieder und ein Mädchen tötete.

Die Hamas bezeichnet das Attentat als ein Werk der Fatah und nahm es zum Anlass für die Massenverhaftung, die Namnan seinen Bart kostete. Die Islamisten beschuldigen den Helles-Clan, eine einflussreiche, mit der Fatah verbündete Groß­familie. Beim Sturm auf das Anwesen des Clans kam es am Samstag zu einem Feuergefecht, elf Menschen wurden getötet. Etwa 180 Mitglieder des Clans flohen nach Israel.
Mahmoud Abbas, der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde (PA), war mit der Flucht nicht einverstanden, er möchte um jeden Preis eine Präsenz der Fatah im Gaza-Streifen erhalten. Nach Angaben des israelischen Verteidigungsministeriums drängte Abbas Israel, die Geflohenen wieder zurückzuschicken. Die ersten 30 Rückkehrer wurden jedoch umgehend verhaftet, die anderen Flüchtlinge sollen nun in der Westbank Unterschlupf finden.
Doch auch eine Machtübernahme der Hamas in der Westbank ist nicht mehr undenkbar. Deshalb ließ Abbas der israelischen Militärführung über Hussein al-Sheikh, den Verwaltungsdirektor der PA, in der vergangenen Woche eine ungewöhnliche Warnung übermitteln: Er werde die PA auflösen, falls im Austausch für den von der Hamas gefangen gehalteten Soldaten Gilad Shalit Parlamentarier der islamistischen Organisation freigelassen werden.
Die Auflösung der PA durch einen unzufriedenen Präsidenten ist in den Osloer Verträgen nicht vorgesehen, und Abbas hätte wohl auch erhebliche Probleme, die Angestellten, vor allem die bewaffneten, nach Hause zu schicken. Der Präsident weiß sicherlich, dass die Forderung, Gefangene nicht freizulassen, unpopulär ist. Er wollte offenbar Israel sowie die westlichen und arabischen Staaten auf die Gefahr einer Machtübernahme durch die Hamas hinweisen.

Ein Gefangenenaustausch mit anschließender Siegesfeier nach dem Vorbild der Hizbollah würde das Ansehen der Hamas stärken, er wäre auch eine indirekte Anerkennung der Islamisten als Ver­handlungspartner. Das Parlament spielt zwar keine Rolle mehr in der palästinensischen Politik, viele der etwa 40 Abgeordneten der Hamas, die derzeit in israelischen Gefängnissen sitzen, sind jedoch einflussreiche lokale Führer. Vor allem befürchtet Abbas wohl einen Putschversuch, bei dem es ähnlich zugehen könnte wie im Gaza-Streifen.
Eigentlich hätten die nominell 60 000 Soldaten, Polizisten und Milizionäre der Fatah im Gaza-Streifen keine großen Probleme haben dürfen, sich im Juni 2007 des Angriffs der Hamas zu erwehren. Doch die meisten Fatah-Kämpfer griffen gar nicht erst zur Waffe. Sie wurden zuvor schlecht oder gar nicht bezahlt, und aus Idealismus mochte kaum einer sein Leben riskieren. Reformen wurden immer wieder gefordert und angekündigt, doch die Fatah ist weiterhin eine korrupte Organisation, deren Hauptaktivität derzeit die interne Verteilung der beträchtlichen finanziellen Zuwendungen aus dem Ausland ist.
Wenn die dicken Männer mit den Schnurrbärten sich bedient haben, ist für die Angestellten der PA häufig nicht genug übrig. In dieser Woche werden wieder Gehaltszahlungen fällig, und Abbas ist wieder einmal pleite. Das liegt allerdings auch an der mangelnden Zahlungsbereitschaft der so genannten Geberländer, die im Dezember 2007 versprachen, der PA 7,7 Milliarden Dollar zu überweisen. Pünktlich zahlen nur die Amerikaner. Premierminister Salam Fayyad bat in der vergangenen Woche die Weltbank um einen Über­brückungskredit.
Die Hamas zahlt, soweit bekannt, pünktlich. Der Iran und islamistische Unternehmer, mutmaß­lich die Hauptfinanziers der Hamas, sind offenbar nicht nur großzügig, sondern auch fähig, gemeinsam mit den palästinensischen Partnern den illegalen Geldtransfer zu organisieren. Zudem kann die Hamas auf einen harten Kern ideologisch motivierter Kämpfer zurückgreifen.

Auch die Islamisten haben Imageprobleme, insbesondere im von ihnen regierten Gaza-Streifen. In einer Befragung des Palestinian Center for Policy and Survey stuften Anfang Juni mehr als 85 Prozent der Bewohner des Gaza-Streifens ihre Lage als »schlecht« oder »sehr schlecht« ein. Die Fatah ist populärer als die Hamas, bei Präsidentschaftswahlen würden 52 Prozent der Palästinenser Abbas wählen und 39,5 Prozent den Hamas-Führer Ismail Hanija.
Auch in dieser Woche wollen sich Abbas und der israelische Premierminister Ehud Olmert treffen. Olmert, gegen den wegen Korruption ermittelt wird, will Mitte September zurücktreten. Einer der beiden aussichtsreichsten Kandidaten der Kadima-Partei für seine Nachfolge, Tzipi Livni oder Shaul Mofaz, kann möglicherweise sein Amt übernehmen. Doch viele israelische Politiker fordern Neuwahlen, die Friedensverhandlungen verzögern würden. Überdies scheint das Chaos in den palästinensischen Gebieten die israelische Rechte zu stärken. Nach einem Wahlsieg würde sie wohl von Benjamin Netanyahu geführt, der bis­lang nichts von dem Pragmatismus erkennen ließ, den Ariel Sharon in seinen letzten Amtsjahren zeigte.
Dennoch dürfte die Hamas besorgt sein, dass es Fortschritte bei den Gesprächen zwischen Abbas und der israelischen Regierungen geben und sich der syrische Präsident Bashar al-Assad doch noch auf offizielle Friedensverhandlungen einlassen könnte. Eine islamistische Machtübernahme in der Westbank würde weitere Verhandlungen sinnlos machen. Für die Hamas wäre das Risiko hoch, doch scheinen in der Organisation derzeit die Jihadisten einflussreicher zu sein als jene, die der klassischen Strategie des Islamismus folgen und vor allem die gesellschaftliche Hegemonie gewinnen wollen.