Das Scheitern der WTO-Verhandlungen in Genf

Es geht auch ohne Konsens

Die WTO-Verhandlungen sind gescheitert, doch wirtschaftsliberale Politiker finden andere Wege.

»Reden wir nicht darum herum! Die Gespräche sind gescheitert.« Am Mittwoch vergangener Woche trat Pascal Lamy, Generaldirektor der Welt­handelsorganisation (WTO), zerknirscht vor die Presse. Einen letzten Versuch hatte die WTO unternommen, die 2001 begonnene Doha-Runde zum Abschluss zu bringen und doch noch ein Do­kument zu verabschieden, in dem sich die 152 Mitgliedsländer auf weitere Liberalisierungen des Welthandels einigen. Neun Tage verhandelten in Genf 40 Vertreter der wichtigsten WTO-Staaten – umsonst.
Wie schon 2003, als der WTO-Gipfel im mexikanischen Cancún ergebnislos endete, stand im Mittelpunkt ein Konflikt um Agrarprodukte. Indien fordert, dass Länder hohe Schutzzölle erheben dürfen, um Kleinbauern vor billigen Nahrungsmittelimporten zu schützen, die USA lehnen eine solche Regelung ab. Nun jammern die Befürworter des Freihandels über die angeblich vertane Chance, mehr Entwicklung und Wohlstand für alle zu schaffen. Er sei »tief enttäuscht«, sagte der EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso.
Diejenigen hingegen, die sich gegen die wirtschaftsliberale Globalisierung zur Wehr setzen, jubeln. Das Scheitern der Welthandelsrunde habe »Freiräume geöffnet für einen Politikwechsel hin zu einer sozialeren und umweltverträglicheren Ausgestaltung der Weltwirtschaft«, kommentierte das Netzwerk Attac. Doch diese Hoffnung ist allzu euphorisch. Nicht nur, weil das Scheitern der Gespräche keinesfalls unerwartet kam, sondern vor allem, weil die Krise der WTO nicht zwangsläufig einhergeht mit einer Krise der wirtschaftsliberalen Politik.
WTO abschaffen – die alte Forderung der globalisierungskritischen Bewegung scheint sich zu erfüllen. In den neunziger Jahren spielte die WTO eine zentrale Rolle für die Neuordnung des Welthandels nach wirtschaftsliberalen Vorstellungen. Doch die WTO steckt seit Jahren in einer tiefen Krise, blockiert vom Machtkampf zwischen den Industrieländern des Nordens und aufsteigenden Schwellenländern wie China, Indien und Bra­silien, die gemeinsam darauf drängen, dass auch ihre Interessen berücksichtigt werden.
Das Prinzip, dass Beschlüsse immer von allen und nur im Konsens gefasst werden können, hat sich als hinderlich herausgestellt. Seit Jahren verfolgen die USA daher eine Doppelstrategie, sie vertreten ihre Interessen in der WTO, schließen aber auch bilaterale Freihandelsverträge mit einzelnen Staaten oder Staatengruppen ab. Auch die EU-Kommission hat bereits vor zwei Jahren an­gekündigt, nicht mehr nur auf die stockenden WTO-Verhandlungen zu setzen, sondern vermehrt bilaterale Abkommen anzustreben.
Die WTO ist längst nicht mehr der strahlende Leuchtturm, der einer weltweiten Liberalisierung den Weg weist und bei dessen Erlöschen der Wirtschaftsliberalismus sich im Dunkel verliert. Längst erstrahlt ein Lichtermeer unzähliger Freihandelsabkommen zwischen Staaten und Staa­tengruppen, deren Regeln oft viel weiter reichen als jene, die die WTO vorsieht.
Im Gegensatz zu den WTO-Verhandlungen ist die wirtschaftsliberale Politik nicht am Ende, das zeigt gerade die Entwicklung in den europäischen Ländern. In Frankreich wird die Politik der Kürzungen und des Rückzugs des Staates gegen alle Widerstände durchgesetzt. In Osteuropa beginnen die EU-Richtlinien gerade erst zu greifen. In Deutschland wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen, welche Folgen die Umstrukturierung des Bildungswesens langfristig hat und wie sich die Arbeitsmarktreformen auswirken. Es ist relativ leicht, gegen die klaren Regeln einer großen Organisation zu protestieren. Wesentlich schwieriger ist es, gegen den wirtschaftsliberalen Alltag anzukämpfen, der von verstärkten Abstiegsängsten und einer zunehmenden Verinnerlichung der Gebote von Effizienz und Leistungsfähigkeit geprägt ist. Denn das bedeutet, die eigene, diffuse, widersprüchliche Verstrickung in die Netze wirtschaftsliberaler Logik anzugehen.