Radioaktives Material am falschen Ort in Frankreich

Wer trinkt mit Atomic Anne?

Bei mehreren Störfällen in französischen Atomanlagen traten radioaktive Substanzen aus. Die Öffentlichkeit ist beunruhigt, die Anti-AKW-Bewegung protestiert, die Gewerkschaften beklagen schlechte Ar­beits­­bedingungen, doch die Geschäfte der Atomindustrie laufen gut.

Das Geschäft läuft gut für den Atomkonzern Areva. Am Donnerstag der vergangenen Woche wurde ein Vertrag über die Lieferung von nuklearem Brennstoff im Wert von 200 Millionen Dollar an Taiwan unterzeichnet, am folgenden Tag überließ die Zentralafrikanische Republik Areva eine Uran­mine, und am Montag kündigte der Konzern an, nun auch Indien zu beliefern.
Der Atomkonzern, an dem auch Siemens beteiligt ist, will seine Exporte erhöhen (Jungle World, 27/08), ist jedoch wegen mehrerer Störfälle in Frankreich ungewohnt harter Kritik ausgesetzt. Obwohl anscheinend ein bisschen radioaktives Material am falschen Ort die ausländische Kundschaft nicht stört, ist der Konzern um sein Image besorgt. Konzernchefin Anne Lauvergeon, dem Online-Magazin Bakchich info zufolge »von ihren angelsächsischen Verehrern gern ›Atomic Anne‹ genannt«, feuerte den örtlichen Direktor in Tricastin.
Dort hatte sich in der Nacht vom 7. zum 8. Juli der schwerste Zwischenfall ereignet. Eine größere Menge uranhaltiger Flüssigkeit war ausgetreten und hatte drei kleine Flüsse kontaminiert. Ein Großteil der Medien und der Öffentlichkeit vermutete zuerst ein Leck in dem Atomkraftwerk mit vier Reaktorblöcken, das in Tricastin steht. Der Unfall ereignete sich jedoch in der von Frankreich betriebenen Urananreicherungsanlage Eurodif in Pierrelatte, an der mehrere europäische Länder als Kapitaleigner beteiligt sind.
Bei Bauarbeiten war ein Rückhaltebecken in der Kläranlage von Pierrelatte beschädigt worden, die strahlende Flüssigkeit konnte auslaufen. Zunächst war von 360 Kilogramm Uran die Rede, die ausgetreten seien, später wurde die Menge mit 74 Kilogramm angegeben. Der Unfall wurde am frühen Morgen bekannt, doch die Betreiber der Anlage und die Agentur für Strahlenschutz und Reaktorsicherheit gaben erst im Laufe des Nachmittags eine Warnung aus. Daraufhin forderte die Gendarmerie die Badegäste am Lac Lapalud, einem in der Nähe gelegenen kleinen Badesee, per Megaphon hektisch dazu auf, das Gelände so­fort zu räumen und ihre sämtlichen Sachen zurückzulassen. Acht landwirtschaftliche Grundstücke wurden für jede Nutzung gesperrt.

Die verspätete Warnung hat nicht gerade dazu beigetragen, das Vertrauen in die Betreiberfirma Areva zu steigern. Anne Lauvergeon eilte deshalb zu einer improvisierten Pressekonferenz ans Ufer des Lac Lapalud. Sie versäumte es auch nicht, öffentlich ein Glas Wasser aus einem der drei gesperrten Flüsse zu konsumieren. Eventuelle gesundheitliche Folgen werden sich erst in etwa 20 Jahren einstellen, die Inkubationszeit bei Krebs ist lang.
Wenige Tage nach dem Austritt der radioaktiven Flüssigkeit aus der Anlage von Tricastin wurde bekannt, dass beunruhigend hohe Strahlenwerte in der Nähe gemessen wurden. Mit dem Un­fall ließen sie sich nicht erklären. Tatsächlich stellte sich bald heraus, dass die Strahlungsquelle wahr­scheinlich 760 Kilogramm »militärischer Atomabfall« waren, also nuklearer Müll, der bei der Produktion von Atomwaffen nebenbei anfiel. Dieser war seit den späten siebziger Jahren unter einer Erdkuppe in der Nähe notdürftig eingelagert worden.
Bereits Mitte Juli wurde aus einer ebenfalls Areva gehörenden Brennelementefabrik in Romans-sur-Isère unweit von Grenoble gemeldet, bei einem Rohrbruch seien »120 bis 750 Gramm« Uran, in Flüssigkeit gelöst, ausgetreten. Wenige Tage später wurde bekannt, dass bei Bauarbeiten im Atomkraftwerk von Saint-Alban zwischen Lyon und Grenoble 15 Beschäftigte »leicht« radioaktiv kontaminiert wurden. Es bestehe jedoch, so wurde behauptet, keine Gefahr für ihre Gesundheit.
Bei den 15 Lohnabhängigen handelte es sich um die Mitarbeiter von Subunternehmen, die meist schlechter ausgebildet sind und erheblich schlech­ter bezahlt werden als die Angestellten der noch staatlich geführten, aber teilprivatisierten Strom­versorgungsgesellschaft EDF oder des Atomkonzerns Areva. Der Gewerkschaftsbund CGT bekämpft diese Praxis seit Jahren. Unterdessen verkündete die CFDT, der zweitgrößte französische Gewerkschaftsbund, 80 Prozent der in Atomkraftwerken bei Wartungsarbeiten eingesetzten und Strahlungsgefahr ausgesetzten Lohnabhängigen gehörten Subunternehmen oder Zeitarbeitsfirmen an.

Proteste gegen Atomkraftwerke sind in Frankreich relativ selten, doch die Bewegung wurde wie­der aktiv und konnte am 12. Juli in Paris über 5 000 Teilnehmer zu einer Demonstration versam­meln. In den Gewerkschaften hat die Anti-Atomkraft-Bewegung nur wenige Verbündete. Die CGT tritt für die Rechte der in den Atomfirmen arbeitenden Lohnabhängigen ein, befürwortet jedoch die Nutzung der Atomkraft und auch den Bau neuer Reaktoren. Den Bau eines zweiten neuen Atom­kraftwerks vom Reaktortyp EPR, den Präsident Nicolas Sarkozy am 3. Juli ankündigte, begrüß­te die CGT noch am selben Tag eilfertig. Hingegen äußerte die CFDT, die häufig regierungsfreund­licher auftritt als ihre Konkurrentin, alsbald Kritik. Sie sehe »keinerlei Bedarf« an neuen Atomkraftwerken »vor dem Jahr 2020«. Der Bau eines neuen EPR-Reaktors sei »nicht opportun«, zu­dem müssten die Entwicklung erneuerbarer Energiequellen und das Energieeinsparen im Mit­telpunkt stehen.
Ende vergangener Woche wandte sich die CFDT wieder an die Öffentlichkeit. In Tricastin würden immer mehr Beschäftigte zu Disziplinargesprä­chen vorgeladen und mit Sanktionen bedroht. Die Konzernleitung sucht dringend nach Schuldigen, denn dort waren in den Tagen zuvor bereits zwei neue »Störfälle« gemeldet worden, wobei es sich in einem Fall um einen Fehlalarm gehandelt haben soll. Die CFDT betont demgegenüber, dass »die Lohnabhängigen nicht für die schlechte Arbeitsorganisation« oder den hohen Zeitdruck, unter dem sie mitunter stehen, verantwortlich seien.
Am 23. Juli kamen in Tricastin insgesamt 100 Lohnabhängige in der Atomanlage mit einer radioaktiven Substanz, dem Isotop Kobalt 58, in Berührung, die aus einem Leck in einem Rohr des derzeit abgeschalteten Reaktorblocks 4 ausgetreten war. Die Strahlung, der sie dabei ausgesetzt worden seien, so hieß es, liege weit unter­halb der »zulässigen Grenzwerte«. Kobalt 58 ist jedoch ein Spaltprodukt des Zerfalls von Uran­atomen. In kleinen Staubpartikeln kann es sich in der Lunge der Betroffenen festsetzen, das bedeutet ein erhöhtes Krebsrisiko.
Eingestuft wurde der Unfall jedoch in die »Kategorie null«, nach offizieller Ansicht handelte es sich gar nicht um einen richtigen Störfall, der in eine der Kategorien von eins bis sieben eingeordnet werden müsste. Pro Jahr gibt es 800 solcher Vorfälle, die Industrie und Behörden als nicht nennenswert gelten, darunter 150, in die »Personen verwickelt«, also beispielsweise radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind. Der Austritt von 74 Kilogramm Uran in Pierrelatte wurde immerhin als Störfall der Kategorie eins bewertet, pro Jahr werden etwa 100 Unfälle dieser oder einer höheren Kategorie gemeldet.