Auf der Suche nach dem echten Mittelstand

Der Möchtegern-Mittelstand

Mittelständische Unternehmer genießen einen besonders guten Ruf. Wer auch immer dazu zählen mag.

Etwas ganz Großartiges scheinen die mittelständischen Unternehmen zu sein. Sie sollen nach Prognosen der Dresdner Bank in diesem und im nächsten Jahr 400 000 neue Arbeitsplätze schaffen und leisten so gute Arbeit, dass sie sogar den Großkonzernen überlegen sind. Wie sonst könnte ein Familienunternehmen wie Schaefflers den Conti-Konzern aufkaufen wollen?
Mit 19 Millionen Personen arbeitet knapp die Hälfte aller Beschäftigten und Selbständigen in Deutschland in Betrieben mit weniger als 50 Mitarbeitern. Nach einer Studie der Unternehmensberatung Ernst & Young soll allerdings in eben jenem Segment die Angst vor dem konjunkturellen Abschwung besonders verbreitet sein und daher ein Stellenabbau wahrscheinlicher als die Schaffung neuer Jobs. Der Mittelstand muss mit Steuervorteilen, dem Abbau bürokratischer Zwänge, Lohnkürzungen und Einschränkungen des Kündigungsschutzes bei Laune gehalten werden, um den Arbeitsmarkt mit zahlreichen neuen Jobs zu beglücken.

Wer oder was ist eigentlich dieser »Mittelstand«, von dem so viel die Rede ist? In dem Wort steckt eine vormodern-ständische, zünftige Vorstellung von soliden handwerklichen Kleinproduzenten, die für den heimischen Markt arbeiten. So wie sich in Deutschland fast alle gerne zur »Mittelschicht« zählen, solange sie noch ein Familienauto finanzieren können, rechnet sich am liebsten jeder, vom Taxifahrer bis zum Fabrikanten von Autoteilen, zum »Mittelstand«.
Diese illusionäre Sicht der Dinge wird fleißig von Lobbyisten genährt, die auf diesem Ticket Einfluss und öffentliche Aufmerksamkeit erlangen wollen. Von der CDU bis zur Linkspartei reicht das Spektrum derer, die sich als Interessenvertreter des »Mittelstandes« profilieren, und auch zahlreiche Verbände gehen mit dem Anspruch hausieren, kleine und mittlere Unternehmer und Selbständige gleichzeitig zu vertreten.
So beschäftigte sich der »Bundesverband der Selbständigen« jüngst in einer Studie mit den »Problemen im Mittelstand«. Dass die befragten Unternehmer »Bürokratie«, »Planungsunsicherheit« und »Lohnzusatzkosten« zu den größten Problemen zählen, dürfte kaum überraschen. »Betriebliche Mitbestimmung« wird hingegen eher als nachrangiges Problem angesehen – in den klei­neren Unternehmen gibt es sie ja auch kaum. Interessant ist vor allem, wer alles befragt wurde. Da sind die »Einzelunternehmer«, also selbständige Produzenten und Dienstleister, die in der Regel keine Lohnarbeiter beschäftigen, kleinste Handwerksbetriebe mit ein bis fünf Mitarbeitern, Kleinbetriebe mit fünf bis 50 und Unternehmen mit 50 bis 250 Beschäftigten. Entsprechend unterschiedlich sind die Interessen der Befragten.

Eine Kategorie, für die »Mittelstand« ein beschönigendes Etikett ist, hinter dem sich meist prekäre Ausbeutungsverhältnisse verbergen, ist die der »Einzelunternehmer« bzw. Selbständigen. Dazu zählen vor allem die Honorarkräfte und die Selbständigen mit und ohne Gewerbeschein in den neuen Dienstleistungsbranchen. Schon Mitte der neunziger Jahre wurde dieses Segment im Wildcat-Zirkular beschrieben: »Die ›neuen Selbständigen‹ sind zunehmend Einmann/Einfrau-Unternehmen. Sie sind vorwiegend im Transport-, Bau‑, Metall- und EDV-Sektor tätig und übernehmen Arbeiten, die häufig vorher von Beschäftigten des Großunternehmens selbst ausgeführt wurden. Äußerlich sind sie oft nicht von den übrigen Beschäftigten zu unterscheiden. Der Unterschied ist, dass sie alle Risiken der Wechselfälle des Lebens selbst tragen bzw. absichern müssen.«
Die Zahl jener, die im Jargon der Wirtschaft als »Arbeitskraftunternehmer« bezeichnet werden, ist seither deutlich gewachsen. Klassenanalytisch betrachtet, bilden sie ein Segment der Arbeiterklasse, das dem Zwang zur Lohnarbeit unter besonders prekären Bedingungen ausgesetzt ist und in dem die Arbeitsverhältnisse von Individualisierung gekennzeichnet sind. Die Einkommen der Betreffenden können dabei stark variieren. Ihre häufig vorgenommene Selbsteinschätzung als »kleine Mittelständler« dürfte in erster Linie ein psychologischer Schutzmechanismus sein, der die Tagelöhnerexistenz vergessen lässt.
Zum »traditionellen Mittelstand« zählte Wal Buchenberg im Jahr 2005 »kleine Handwerker und Bauern, aber auch die selbständigen Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte, Ladenbesitzer«. Weiter heißt es: »Sofern dieser alte Mittelstand fremde Arbeit nutzt, dann nicht in einem Umfang, dass der kleine Eigentümer von dieser fremden Arbeit leben könnte.« Jene »kleinen Eigentümer«, die den Möchtegern-Mittelstand bilden, bezeichnete Marx einst als »kleine Meister«.
Die Grenzen zwischen Selbstausbeutung und Überausbeutung fremder Arbeitskraft sind bei ihnen fließend. Das Ziel, Unternehmer mit eigenen Produktionsmitteln und eigenem Kapital zu sein, hat häufig nichts mehr mit der Realität zu tun. Dem Wirt meiner Stammkneipe etwa, der sich gerne zum »unteren Mittelstand« rechnet, gehört in »seiner« Eckkneipe kaum mehr als die Küchenschürze und die CD-Sammlung. Der Rest ist Eigentum des Brauereikonzerns Binding, dem er seine Kleinunternehmerexistenz verdankt.

Wer nicht mit unternehmerischen Existenzängsten zu kämpfen hat, leidet unter der Despotie, die häufig in Kleinbetrieben herrscht. Gerade dort werden unzählige unbezahlte Überstunden abgeleistet, deutlich untertarifliche Löhne gezahlt und die Angestellten unter Druck gesetzt. Die Meinung des »Herrn im Haus« ist in der Regel maßgeblicher als jedes Arbeitsrecht.
Viele jener besagten kleinen Betriebe sind allerdings längst Filialen großer Ketten, sie firmieren juristisch als eigenständige Unternehmen, um Tarifverträge und Mitbestimmungsrechte auszuhebeln. Als ein Beispiel unter vielen kann die Künstlerbedarfskette Boesner gelten, deren 24 Filialen in Deutschland formell eigenständige kleine Unternehmen mit jeweils rund 20 Beschäftigten unter dem Dach einer gemeinsamen Holding sind. In der Kölner Filiale kämpfte die Leitung kürzlich mit allen Mitteln gegen die Gründung eines Betriebsrats.

Bleiben noch jene Unternehmen mit mehreren hundert Beschäftigten und Umsätzen von vielen Millionen, denen etwa die Firma Schaefflers zugerechnet werden kann. Wenn der Begriff vom »mittleren« Unternehmen (ohne jeglichen ständischen Klimbim) irgendwo zutrifft, dann hier. Durch »moderate« Tarifabschlüsse, Deregulierungen auf dem Arbeitsmarkt, eine gute Konjunkturlage und konsequente Orientierung am Export konnten sie in den vergangenen Jahren unter viel Gejammer über »zu hohe Lohnnebenkosten« beträchtliche Reservoirs an Kapital anhäufen und an Produktivität gewinnen.
Es handelt sich zu einem großen Teil um Zulieferbetriebe für internationale Konzerne, etwa in der Metallindustrie. Manche Unternehmen bieten bestimmte Produktteile an, deren Herstellung von den großen Konzernen ausgelagert wurde. Genau darin, solche Nischen der Produktion für den Weltmarkt zu besetzen, liegt ihre makro­ökonomische Funktion. Häufig werden auch Familienunternehmen mit 200 bis 500 Beschäftigten von internationalen Konzernen übernommen, auf Kosten der Beschäftigten »saniert« und wieder verkauft. Das erlebte etwa die Schweinfurter Kugellagerfabrik Bosch-Rexroth dreimal in zehn Jahren.
Unternehmer dieser Kategorie drohen besonders häufig mit ungünstigen Haustarifverträgen und sträuben sich gern hartnäckig gegen betriebliche Mitbestimmung. Wie Hohn klingt es da, wenn der Wirtschaftsprofessor Peter May im Spiegel sagt: »Ein Firmenpatriarch ist jemand zum Anfassen und oft Garant für einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz.« Die »Menschlichkeit« löst sich bei näherer Betrachtung ebenso in Luft auf wie der Mittelstand selbst.