Neuseeland und seine seltsamen Geschichten

Mit Hurricane Johnny zur Arche Noah

Krieger mit Hundeköpfen. Frische Maden zum Frühstück. Blätter, die in vier Sekunden töten. Neuseeland ist voller seltsamer Geschichten. Und voller Menschen, die sie für spätere Generationen erhalten wollen.

Rotorua ist der älteste Touristenort auf Neuseelands Nordinsel. Im Sommer, der hier etwa von November bis Februar dauert, ist er ständig über­laufen. Von Europäern und Amerikanern, aber auch von Hochzeitspaaren und sonstigen Wochen­endurlaubern aus der Südsee. Am See vor der Stadt kann man Speedboot fahren, sich in den Spas um die nahen Schwefelquellen verwöhnen lassen oder für 400 Euro am Tag hinter den Zäunen der »Treetop Lodge« verschwinden, in der schon Julia Roberts, Jack Black und Michael Jackson ihre freien Tage verbrachten.
Nach 30 Stunden Anreise möchte ich am liebsten zwei Tage lang schlafen. Doch deshalb sind Fotograf Thomas Linkel und ich nicht hier. Wir wollen uns einige Orte in Neuseeland anschauen, die den immer stärkeren Touristenströmen trotzen. Und Menschen treffen, die sich um sie kümmern. Vor dem Hotel hupt es. Ein bulliger 60-jähriger Maori steht neben einem Jeep und winkt uns zu.

Drei Minuten später bin ich auf dem Weg zum Whirinaki Rainforest. Und weiß, dass der bullige Mann am Steuer Hoani heißt und am Rand dieses Waldes geboren wurde. Wenn man in Europa das Wort »Regenwald« hört, denkt man an die Tropen, an Schlangen, Affen und im Unterholz lauernde Raubkatzen. Doch der Wald, in den Hoani auf immer engeren Straßen fährt, sieht an­ders aus. Schon vor 85 Millionen Jahren hat sich Neuseeland vom Urkontinent abgespalten. Seitdem entwickelte sich die Fauna und Flora unabhängig von den anderen Kontinenten. Die Äste der moosbewachsenen, tropfnassen Bäume links und rechts der Straße ragen so weit über den Weg, dass sie uns ins Auto greifen, wenn wir die Fenster offen halten. Auf den ersten Blick sieht das aus wie ein nasser europäischer Mischwald. Bis man merkt, dass man keinen einzigen dieser Bäume jemals gesehen hat.
Dafür springen dazwischen keine gefährlichen Tiere herum: Als das Land sich selbständig mach­te, gab es noch keine Säugetiere oder Schlan­gen. »Neuseeland zu erforschen, ist, wie einen anderen Planeten zu erforschen«, sagte mal ein Biologe. Nach dieser Fahrt sind wir derselben Meinung.
Hoani hält an einer kleinen Lichtung. Er spricht ein Gebet, bevor er den Wald betritt. »Mein Stamm hat diesen Wald gekauft«, sagt er. »Wir haben gesehen, wie die Stämme an der Küste Schaden an ihrer Seele nahmen, weil sie in die Städte gezogen und sich zu sehr unter die Weißen gemischt haben. Damit uns nicht dasselbe passiert, haben wir uns diese Insel geschaffen.«
Maori sehen den Wald als Heimat und spirituel­les Wesen gleichzeitig an. Wir straucheln hinter Hoani ins Gehölz. »Das ist Pikopiko«, sagt er und zeigt auf einen Farntrieb. »Unsere Nationalpflanze. Ziert das Landeswappen. Schmeckt aber auch ganz gut mit Essig und Öl.« Das unscheinbare Blatt daneben indes sollen wir lieber nicht probieren. »Wenn man das auskocht und eine Pfeil­spitze darin eintaucht, stirbt ein getroffener Gegner in vier Sekunden.« Von einem der nächsten Bäume nimmt er ein Stück Rinde und schaut auf den Stamm. »Keine Maden heute. Gut, dann fällt das Frühstück aus.« Er befestigt die Rinde wieder und bittet den Baum um Verzeihung, dass er ihm Schmerz zugefügt hat.
An einem Wasserfall im Wald hält Hoani inne. Zwischen Felsen, die hinter den herabstürzenden Wassermassen liegen, begraben die Maori ihre Häuptlinge. Hoani senkt den Kopf. Wieder spricht er ein Gebet. Dann schaut er uns an.
»Im Zweiten Weltkrieg hat mein Vater gegen Rommel gekämpft. Bei einer Patrouille fand er einen verletzten Deutschen. Er brachte ihn ins Lazarett. Mein Vater und der Deutsche schlossen einen Bund: Sie versprachen, ihre Erstgeborenen zu verheiraten, damit nie wieder Krieg zwischen ihren Familien sein sollte. 1947 wurde ich geboren, das erste Kind meiner Eltern. Zwei Jahre später bekam auch der Deutsche in München Nachwuchs, eine Tochter. Wir haben uns getroffen und verliebt. Meine Frau und ich sind seit 37 Jahren verheiratet. Wir haben Wort gehalten.«

Dieses Erbe hat Hoani nicht davon abgehalten, selbst ein Kämpfer zu werden. 1964 trat er im olympischen Boxturnier an und gewann in seiner Gewichtsklasse Bronze. Wenige Jahre später war er in Vietnam. Als Offizier einer Spezialeinheit drang er in die geheimen Bunkeranlagen der Vietnamesen ein. Als er von diesem Einsatz zurückkam, ging Hoani fünf Wochen lang in den Wald, bevor er zu seiner Familie aufbrach. »Meine Seele hat die Zeit gebraucht. Und ich habe niemals mit jemandem über Vietnam geredet.« Warum kämpfen Maori so viel, zudem noch in Kriegen, die sie gar nichts angehen, will ich von ihm wissen. »Wir sind Krieger«, sagt er. »Wir kämpfen überall, meistens auf Seiten der Amerikaner. Im Irak waren Verwandte von mir, und Söhne von Freunden sind gerade in Afghanistan. Kleine Verbände für besondere Aufgaben, über die nicht viel zu erfahren ist.« Dabei lächelt er, und plötzlich bin ich froh, dass dieser kleine ältere Mann mein Führer und nicht mein Gegner ist.
Hoani bringt uns nach Rotorua zurück, wo wir eine Verabredung am kleinen Hubschrauber-Landeplatz haben. Eine der hier startenden Touren führt zum Mount Tarawera. Schon nach weni­gen Minuten sehen wir den gewaltigen Krater dieses Vulkans, er entstand im Juni 1886. Die kilo­meterlange Eruptionsspalte ist mit roter und grauer Asche gefüllt. Fotograf Linkel stiefelt mit den anderen Reisenden auf den steilen Abhang zu und die Böschung hinunter. Binnen Minuten ist er verschwunden. Mir ist das zu halsbrecherisch. Ich setze mich an den Kraterrand. Betrachte die roten, schwarzen und grauen Gesteinsschichten, die sich entlang der Spalte so scharf voneinander abheben, als wären sie mit Farben aufgemalt worden.
Nach kurzer Zeit kommt einer der Parkwächter auf einem Quad gefahren. Joe ist 24 Jahre alt und gehört dem Maori-Stamm von Hoani an. Als ich ihm den Platz neben mir anbiete, erzählt er mir eine unglaubliche Geschichte. »Wenige Tage bevor der Vulkan ausbrach, kam eine weiße Führerin mit ihrer Reisegruppe zum Mount Tarawera. Auf dem See am Fuß des Bergs sah sie ein Kriegskanu der Maori. Aber die Männer an den Rudern hatten Hundeköpfe. Als die Tour beendet war, erzählte die Führerin einem Maori-Häuptling davon. Der sagte: ›Bald wird großes Unglück passieren.‹ Drei Tage später brach der Vulkan aus. Über 150 Menschen starben.«
Schweigend sitzen wir zusammen. Irgendwann kraxeln die anderen wieder über die Krater­kante hervor. Zusammen steigen wir in den Hubschrauber.

Drei Tage später. Schwerer Regen geht plötzlich in Hagel über. Als der erste, fingerkuppengroße Brocken mich an der Schulter trifft, fliehe ich unter einen Baum. Der Trampelpfad durch den Urwald saugt sich mit Wasser voll. Ein paar hundert Meter nach diesem Baum kommt der Ozean. Und dann kommt eigentlich nichts mehr. Bis zur Antarktis. Der Baum steht auf Stewart Island, also mehr oder weniger am Ende der Welt. Stewart Island ist Neuseelands Außenposten. Die Insel liegt wenige Kilometer von der Südküste des Lan­des entfernt und umfasst etwa 70 mal 40 Kilometer, mit zahlreichen Buchten und Vorinseln. Regenwald überwuchert auch sie.
Keine 300 Menschen leben auf Stewart Island, die meisten davon im Hafen Oban auf der Nordseite. Mein Baum steht auf der Südseite. Im 13. Jahr­hundert siedelten die ersten Maori auf der Insel, der sie wegen der spektakulären Sonnenuntergänge den Namen »Rakiura« (Glühende Himmel) gaben. Als erster Europäer sichtete James Cook sie im Jahre 1770, doch erst der britische Walfänger Captain William Stewart kartografierte die Insel im Jahr 1809 und gab ihr kurzerhand seinen Namen. Ernsthafte Besiedlungsversuche durch den weißen Mann begannen erst im späten 19. Jahrhundert.
Am Morgen setzt ein Buschflugzeug den Fotografen Linkel und mich am nahen Strand ab. Dort wartete schon unsere Führerin auf uns, die bereits am Tag zuvor quer über die Insel zu un­serem Treffpunkt gewandert war. Sie heißt Furhana. Wegen ihrer dunklen Haut und der schwar­zen Haare halten sie viele für eine Maori, also eine Ur­einwohnerin Neuseelands. Aber ihr Vater stammt aus Indien, ihre Mutter von den Seychellen. Als Furhana 1994 zum ersten Mal nach Stewart Island kam, wusste sie, dass sie hier bleiben würde. Die unberührte Natur überwältigte sie. 1999 gründete sie ihr eigenes kleines Tourismus-Unternehmen. Nicht alle reden gut über Fur­hana. Viele andere Führer, die ihre Klienten bei Einbruch der Nacht nach Oban zurückführen, hal­ten ihre Touren für zu hart. »Willkommen auf Stewart Island!« ruft sie, sobald die Propeller zum Stehen gekommen sind. Doch statt eines Begrüßungsgetränks dürfen wir erst mal eine Stunde lang über Dünen und Trampelpfade durch den Wald zu einer kleinen Hütte stapfen.
Plötzlich hört es auf zu hageln. Binnen Sekunden. Eine Minute später scheint die Sonne auf den Regenwald. Bringt das Moos an den Bäumen zum Dampfen und lässt die Pfützen glitzern. Die ersten von ihnen verschwinden schon, als ich mich wieder auf den Weg mache. Als die Lichtung mit der Gästehütte vor mir auftaucht, muss ich schon lange keine Kurven um die einzelnen Wasserlachen mehr machen. Von der anderen Seite kommen Furhana und der Kollege auf mich zu. Sie winkt mich herbei. »Wir suchen einen Kiwi. Als Fotomodell für Thomas.« Furhana bedeutet uns, leise zu sein. Wir schleichen ihr nach, weg vom Weg in den Urwald. Sie lauscht, sie pirscht sich an besonders dichte Gebüsche heran, findet sogar Kiwidung, den sie uns zum Beweis zeigt, dass Neuseelands Nationalvogel hier wirklich lebt. Doch blicken lässt sich heute leider keiner. Zu wechselhaft ist das Wetter. Auf einer Lichtung bleibt Furhana stehen und öffnet die Arme: »Ihr habt wirklich Pech«, bedauert sie. Und beginnt vom Wald zu erzählen, der uns umgibt. Er ist vor 190 Millionen Jahren entstanden. Seit die Siedler Säugetiere ins Land brachten, muss auf Neuseeland um den Erhalt jeder Tierart gekämpft werden. Und mancher Kampf ist schon verloren gegangen. »Für später sind wieder Regenschauer angesagt«, beendet Furhana ihren Vortrag. »Macht es euch etwas aus, wenn wir erst mal in der Hütte etwas essen?«
Natürlich nicht. Wir stapfen zur Hütte zurück und heizen den Ofen an. Draußen wird es dunkel. Immer wieder prasselt Hagel aufs Dach. Wir beginnen, uns gegenseitig aus unseren Leben zu er­zählen. Es ist, als wären wir in der Jugendherberge ins Mädchenzimmer geschlichen und würden jetzt so lange plaudern, bis der Lehrer kommt. Irgendwann verglüht das letzte Scheit im Kamin. Zeit für den Schlafsack.
»Ihr wart mit Furhana unterwegs und lebt noch? Herzlichen Glückwunsch!« Allmählich mögen wir uns gar nicht mehr ausmalen, was hätte passieren können, wenn das Wetter gut gewesen wäre und wir mehrere Tage Zeit gehabt hätten. Die besorgt blickende ältere Dame heißt Ulva, und genau so heißt auch die Insel, die sie uns zeigt. Halb schottisch, halb Maori, führte sie Jahre lang Besucher im Auftrag der Regierung über die Insel. Bis sie beschloss, sich selbständig zu machen. Ihre Touren dauern lediglich drei bis vier Stunden. Ulva Island misst wenige Quadratkilometer. Obwohl man nur zehn Minuten mit dem Wassertaxi von Oban bis zur Insel braucht, ist Ulva Island so etwas wie Neuseelands Arche Noah. Vögel, die woanders auszusterben drohen, werden hier angesiedelt. Die Insel wird zu hundert Prozent frei von Säugetieren gehalten. Den Kies, mit dem die wenigen Wanderwege aufgeschüttet wurden, hat man vor der Anlieferung gewaschen, damit keine fremden Lebewesen oder Samenkörner eingeschleppt werden.
»Hoffentlich nützt das was.« Ulva hat uns zu einem kleinen Unterstand am Strand geführt und wiegt zweifelnd den Kopf. Obwohl sie von den Touristen lebt, wird ihr der Andrang langsam zu groß. 25 000 haben die Insel im vergangenen Jahr besucht. Ob man sie so auf Dauer von äußeren Einflüssen unbeschädigt halten kann? Wie um sich abzulenken, beginnt unsere Führerin zu klatschen und zu schnalzen. Ein kleiner grüner Vogel löst sich aus dem Blattwerk und fliegt auf ihre Hand. Sie betrachtet ihn zärtlich »Das ist ein Rifleman. Von dieser Unterart gibt es noch circa 20 Stück hier. Überall sonst gilt sie als ausgestorben. Vielleicht sollten wir Menschen die Insel ganz in Ruhe lassen.«

Am Kai von Oban steht ein kleiner Mann in wetter­festen blauen Kleidern und Gummistiefeln. Er ist 74 Jahre alt, sieht 15 Jahre jünger aus und heißt John Leask. Jeder in Oban kennt ihn als »Hurricane Johnny«. Als wir auf sein Schiff steigen, das »Rawhiti« heißt und 1908 von seinem Großonkel gebaut wurde, frage ich ihn nach dem Grund für diesen Spitznamen. »Oh«, lacht Leask. »Als ich jung war, war mir jedes Wetter egal!«
Obwohl die Sonne scheint, ist der Tag recht stür­misch geworden. Während wir uns irgendwo festklammern, lacht Leask bei jeder Welle, die sein Schiff erklimmt. Bei jeder Böe, die über Deck fegt. Er fährt seit seiner Kindheit auf dieses Meer hinaus. Bis 1988 als Fischer, danach mit Touristen. Wie lange er noch weitermachen will, frage ich ihn. »Bis zum Ende«, sagt er schlicht. Im Windschatten von Ulva Island wirft er die Angelschnüre aus. Binnen Minuten füllt sich das Deck mit Fischen. Manche wirft er zurück, darunter auch einen kleinen Hai. »Müssen noch wachsen.«
Als er genug für eine Mahlzeit zusammenhat, schneidet er Filets zurecht und wirft den Gaskocher in der Kabine an. Dazu braucht er beide Hände. Mit einer Kopfbewegung schickt er mich ans Ruder. »Fahr uns Richtung Hafen.«
Ich umfasse das Ruder mit klammen Händen. Immerhin ist das Schiff eine Antiquität, Fami­lien­erbstück noch dazu! Auf den ersten Metern schaue ich mich immer wieder zu Leask um. Komischerweise sinkt das Schiff nicht, es fährt sogar in die Richtung, die ich will. Ich umrunde Ulva Island. Der Hafen taucht vor mir auf. Ich bin der Schrecken der Sieben Meere! Der König der Welt! Plötzlich greift mir eine Hand ins Ruder. »Jetzt lass mich mal wieder«, sagt Hurricane Johnny. »Nicht, dass du mir noch das Schiff kaputtmachst.«
Immerhin: Zum Abschluss klopft er mir auf die Schulter, und abends im Hotel muss ich mich endlich nicht mehr wegen der Zeitumstellung in den Schlaf kämpfen. Tags darauf beginnt die Rück­reise.