Zum 50. Todestag des Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker

Die Reaktion rocken

Vor fünfzig Jahren starb der Anarcho­syndikalist Rudolf Rocker. Seine Ideen sind jedoch noch lange nicht tot

Rudolf Rocker – auch wenn der ­Na­me schon genügend Anlass gäbe, um zu dieser Person Ge­schich­ten zu erzählen, gibt es schon heute, fünf­zig Jahre nach ­seinem Tod, nur wenige Spuren der Erinnerung; es ist davon auszugehen, dass in zweihundertfünfzig Jahren selbst diese wenigen Spuren verschwunden sind. Dabei darf man ohne Übertreibung sagen, dass es wohl kaum einen sozialistischen Theoretiker und Praktiker gibt, der aktueller ist: Rocker war nicht nur Wegbereiter des so genannten Anarchosyndikalismus, also einer am frei-gewerkschaftlichen Klassenkampf orientierten anarchistischen Praxis, sondern hat als einer der wenigen aufs Schärfste jede Form des Nationalismus und der nationalen Identität angegrif­fen. Damit hat er die ansonsten etwas spröde und voluntaristische Staatskritik des Anar­chis­mus auf eben das Problem fokussiert, das das Verhältnis von Staat, Individuum und Gesellschaft nachhaltig – und man kann nur sagen auf unmenschliche Weise – geprägt hat: das Pro­blem der Nation.
Der Reihe nach. Johann Rudolf Rocker wird am 25. März 1873 in Mainz geboren, tritt als Jugendlicher der SPD bei, verlässt diese aber alsbald schon wieder aus Unmut über die Partei­strukturen. Der Beruf des Buchbinders bringt ihn in Kontakt mit Anarchisten (die seinerzeit noch häufig über einzelne Handwerke organisiert waren). 1893 emigriert Rocker nach Paris, zieht 1895 weiter nach London, später Liverpool und erneut London. Hier findet er im Bezirk Whitechapel in einer jüdischen Gemeinde eine neue Heimat; hier lernt er auch seine Lebensgefährtin Milly Witkop kennen. Die Einreise in die USA wird ihnen verweigert, weil sie nicht verheiratet sind. »Unsere Beziehung«, so Rocker, »ist eine freie Vereinbarung. Es ist eine rein private Angelegenheit, die nur uns etwas angeht und keine Bestätigung durch irgendein Gesetz braucht.«
Wieder in England lernt Rocker Jiddisch, ist aktiv in der jüdisch-anarchistischen Gruppe Arbeter Fraynd (Arbeiterfreund) und verfasst zahl­reiche Artikel für die Zeitung Dos Fraye Vort (Das Freie Wort). Die nächsten Jahre, 1900 ff., sollen die Goldenen Jahre des jüdischen Anarchismus werden; Rocker, selber kein Jude, aber mittlerweile mit großen Einfluss selbst innerhalb der nicht-politischen jüdischen Gemeinde in London, wird zum Wortführer und vertritt die Anliegen dieser originären anarchosyndikalistischen Bewegung international (so zum Beispiel auf dem Anarchisten-Kongress in Amsterdam 1907). In dieser Zeit lernt Rocker zudem andere anarchistische Genossen kennen wie zum Bei­spiel Emma Goldman, Errico Malatesta, Fran­cis­co Ferrer oder Pjotr Kropotkin. Während des großen Tuchmacher-Streiks 1912, bei dem Rocker wiederum eine Schlüsselposi­tion einnimmt, ist die Bewegung erstmals offen­kundig mit Antisemitismus auch innerhalb der Arbeiterschaft konfrontiert. Gleichwohl hält Rocker – und man muss sagen mit Erfolg – an seiner Linie fest, dass nur eine Revolution, die sich aus den Kämpfen der Massen ergibt, eine gesellschaft­liche Änderung ermöglicht. Darin unterscheidet sich Rockers Anarchosyndikalismus im Übrigen wesentlich von etwa Bakunins Anarchismus einer Propaganda der Tat.
Als Revolutionär ist Rocker kein Pazifist, aber ganz klar Gegner des imperialistischen Kriegs. Bereits 1914 ahnt er, dass sich die mi­litärische Konflikte zum Weltkrieg ausweiten werden, »ei­ne Zeit des Massenmords, wie es die Welt noch nicht gesehen hat«. Als Deutscher wird er in Eng­land verhaftet und interniert. 1918 kommt er im Zuge eines Austauschs von Kriegsgefangenen über Holland zurück nach Deutschland. Seine Theorie des Syndikalismus, die er mittlerweile ausgearbeitet hat, wird im Statut der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) aufgenom­men. Mit seinem Essay »Der Bankrott des rus­sischen Staatskommunismus« von 1921 liefert Rocker eine erste luzide Kritik des Leninismus. 1922 gehört er zu den Gründungsmitgliedern der anarchosyndikalistischen Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA). Rocker konzentriert sich gleichwohl in diesen Jahren verstärkt auf die theoretische Arbeit, publiziert einige monografische Beiträge im Verlag und in der gleichnamigen Zeitung Der Syndikalist. 1933 emigriert Rocker mit Witkop in die USA. Hier trifft er zahl­reiche seiner jüdischen Genossen wieder und schreibt regelmäßig für die Freie Arbeiter Stimme, eine jüdisch-anarchistische Zeitung. Gleich­zeitig arbeitet er weiter an seinem bereits Mitte der Zwanziger begonnenen Hauptwerk »Na­tionalism and Culture«, das 1937 in Chicago erscheint und erst 1949 auf deutsch unter dem Titel »Die Entscheidung des Abendlandes« publiziert werden kann: eine bündige Kritik des Nationalismus sowie des Nationalsozialismus, die bezeichnenderweise im angelsächsischen Raum wesentlich mehr Anerkennung und Beachtung gefunden hat als in Deutschland. In den dreißiger Jahren gilt Rockers Aufmerksamkeit den Ereignissen in Spa­nien, worüber er ebenfalls publiziert.
Rocker, der den Realsozialismus ohnehin nicht erst mit Stalin kritisierte, sondern bereits mit Lenin das Projekt zum Scheitern verurteilt sah, entwickelt nicht zuletzt als Reak­tion auf die anti-anarchistischen Aktivitäten des Partei­sozia­­lismus einen Antikommunismus, dem allerdings die Differenzierungen zum Kom­munis­mus der Marxschen Theorie fehlten. Sym­pa­thisch aus heutiger Sicht erscheint indes Rockers Abkehr von der Arbeiterbewegung. Doch die Zeit des organisierten Anarchosyndikalismus scheint vorbei, auch in den USA. So wird es ­ru­higer in den letzten Lebensjahren von Rudolf Rocker. Seine Frau Milly stirbt 1955, Rudolf Rocker drei Jahre später, 1958. Für den Anarchis­mus waren jetzt andere Zeiten angebrochen.
Rocker ist kein wirklicher Theoretiker des Sozialismus gewesen, sondern ein engagierter Praktiker, der aus seiner außergewöhnlichen Praxis einige diskutable theoretische Schlüsse gezogen hat. Mit seinen Untersuchungen zum Nationalismus und zum Nationalstaat hat er ­sicher nicht das letzte und auch nicht das kritisch-klügste Wort gesprochen, doch hat er – und allein deshalb wäre Rockers Vermächtnis durch eine angemessene Auseinandersetzung vor dem geschichtlichen Vergessen zu bewahren – Pionierarbeit geleistet und das Natio­nale kritisiert, als es für andere bestenfalls noch kein Thema, schlimmstenfalls ein positives war. Nicht unproblematisch ist bei Rocker, der kein theoretisch geschulter Materialist ist, sondern allzu schnell geneigt scheint, empirische Be­obachtungen mit losen Ideen zu verknüpfen, sicherlich der naive Begriff des Volkes, den er kulturkonservativ und lebensphilosophisch bestimmt: »Volk« sei eine natürliche Ein­heit; »denn ein Volk lässt sich ebenso wenig in fremde Sitten, Gewohnheiten und fremde Ideen­gänge gewaltsam hineinpressen, wie man Einzelwesen in den engen Rahmen einer fremden Individua­lität hineinzwingen kann. Dort, wo eine natürliche Annäherung und ein allmähliches Aufgehen verschiedener Völkerschaften in einander stattfindet, geschieht dies stets frei­willig und ganz unbewusst durch natürliche Anpassung, niemals aber auf dem Wege brutaler Gewalt. Alle menschlichen Kulturgemeinschaften kommen auf diese Weise zustande«, heißt es in einem Aufsatz von 1929. Dagegen setzt Rocker nun den Begriff der Nation ab: »Die Nation aber ist stets das künstliche Produkt eines Regierungssystems, wie ja auch der Nationalismus im Grunde genommen nichts anderes vorstellt als die Religion des Staates. Die Zugehörigkeit zu einer Nation wird nie durch natürliche innere Ursachen bestimmt, sondern durch rein äußer­liche Verhältnisse und Gründe der Staatsräson, hinter der sich natürlich immer nur die Sonderinteressen bestimmter Klassen verbergen. (…) Gerade der moderne Verfassungsstaat war es, der den Begriff der Nation und das Wesen des Nationalismus bis zur letzten Konsequenz entwickelt hat. (… ) Erst der moderne Staat, der vorgeblich jedem seiner Bürger das Mitbestimmungsrecht an der Regierung durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts verliehen hatte, entwickelte die Idee der Nation zur eigent­lichen Blüte. Der ›Bürger‹ nahm den Platz des ›Untertanen‹ ein und, hypnotisiert von seinen neu erworbenen politischen ›Rechten‹, musste er nun auch die aus diesen Rechten erwachsenden ›Pflichten‹ mit übernehmen. Die Wahlurne wurde zum ­Opferaltar der menschlichen Persönlichkeit, der Stimmzettel zur Urkunde freiwilliger, geistiger und wirtschaftlicher Sklaverei.«
Rockers Aktualität liegt eben hier: dem Nationalismus seine vermeintlich biologisch-­natürliche Grundlage entzogen zu haben. Die unfreie Gesellschaft der Despotie bleibt hin­gegen solange auf die Nation bzw. den Nationalismus zurückgeworfen, wie die der nationalen Idee zugrunde liegenden Verhältnisse nicht aufgehoben sind. Notwendig dafür ist, dass Menschen ihre Interessen als menschliche (und nicht als völkische, nationale, ökonomische etc.) erkennen und ergreifen – insofern fordert Rocker einen neuen humanitären Sozialismus: »Nur so wird es den Menschen gelingen, die heutige kapitalistisch-nationalistische Reaktion aufs Haupt zu schlagen und die Bahn zu brechen, die uns ins Neuland einer besseren Zukunft führt.« Dies ist die entscheidende Spur, die es nicht nur aufzunehmen gilt, um jemanden wie Rudolf Rocker 2008 in die Diskussion zurückzubringen, sondern auch, damit die Zukunft überhaupt stattfinden kann. Denn, noch einmal Rocker, »sich abfinden mit der Welt, wie sie ist, heißt Reaktion«.