Separatistische Bestrebungen in Russland

Die Tataren kommen

Durch die Anerkennung der Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens hat die russische Regierung separatistische Bestrebungen im eigenen Land ermutigt.

Eine Rückkehr der Goldenen Horde muss die russische Regierung nicht befürchten, die heutigen Tataren haben bescheidenere Ziele. Doch viele von ihnen sind der Ansicht, dass nun die Reihe an ihnen sei, einen eigenen Staat zu gründen. Ermutigt von der jüngst erfolgten Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens meldete sich das »Alltatarische gemein­schaftliche Zentrum«, eine Vereinigung nationalistischer Organisationen, in einem Brief zu Wort und drückte die Hoffnung aus, die derzeit zur russischen Föderation gehörende Repu­blik Tatarstan könne diesem Beispiel folgen. »Russland verfügt von nun an nicht mehr über das mo­ralische Recht, uns die Unabhängigkeit zu verweigern«, erklärte Raschit Achmetow, Chefredakteur einer Oppositionszeitung aus Tatarstans Hauptstadt Kasan.
Mit der Anerkennung der Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens Ende August hat die russische Regierung solche Bestrebungen gefördert. Ohne den vorausgegangenen militärischen Angriff Georgiens auf Südossetien, dessen Führung die Zugehörigkeit zu georgischem Staatsgebiet seit Anfang der neunziger Jahre vehement ab­lehnt, hätte sich die russische Regierung wohl kaum auf dieses riskante Unterfangen eingelassen. Denn dafür bestand keinerlei Notwendigkeit. De facto standen diese Regionen ohnehin schon seit geraumer Zeit unter russischer Kontrolle, in gewisser Hinsicht ist der Einfluss Russlands dort sogar stärker zu spüren als in manchen Teilen des Staatsgebietes.

Wahrscheinlich hat die russische Regierung improvisiert, Priorität hatte das Bedürfnis, als wiedererstarkte Großmacht einen überzeugenden Machtbeweis zu erbringen. Doch diese Entscheidung liefert regionalen Machthabern Argumente und einen Präzedenzfall, was in Russlands instabiler Peripherie auf Dauer zu einer Schwächung der Zentralmacht führen könnte. Insbesondere betrifft dies den russischen Nordkaukasus, aber auch beispielsweise das völlig von russischem Staats­gebiet umgebene Tatarstan.
Wie stark separatistische Tendenzen in den zu Russland gehörigen und mit einem unterschiedlichen Ausmaß an Autonomie ausgestatteten Teil­republiken durch die Anerkennung Südossetiens und Abchasiens gefördert werden, hängt vor allem von den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten ab. Ökonomisch betrachtet haben nur wenige Re­gionen so gute Voraussetzungen für die Unabhängigkeit wie das mit Ölvorkommen gesegnete und wirtschaftlich boomende Tatarstan. Die russischen Kaukasusrepubliken wären ohne die enge Anbindung an Moskau und dessen reichliche Subventionen kaum existenzfähig. Eigene Rohstoffe sind dort meist nur spärlich vorhanden, die Arbeitslosigkeit ist hoch und der Tourismus als Einnahmequelle lediglich in den vergleichsweise ruhigen Gebieten relevant.
Der Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Memorial und Kaukasus-Experte Alexander Tscherkasow nannte im Gespräch mit der Jungle World Voraussetzungen für separatistische Bestrebungen. »Entweder braucht es objektive Gründe, die oft durch eine lange historische Tradition gefestigt sind, oder aber der Staat provoziert separatistische Ambitionen durch sein rücksichtsloses Vorgehen.«
Wie die Zentralregierung separatistische Tendenzen fördern, ja überhaupt erst aufkommen lassen kann, wird besonders in Inguschetien deut­lich. Trotz des jahrelang andauernden Krieges in der benachbarten tschetschenischen Republik blieb die politische Situation dort über lange Zeit relativ stabil. Eine Wende zeichnete sich erst ab, als die russische Regierung im Jahr 2002 den damaligen durchaus loyalen Präsidenten Ruslan Auschew durch Murat Zjazikow, einen General des Inlandsgeheimdienstes FSB, ersetzen ließ.
Dessen Führungsstil war von Anfang an nicht darauf ausgerichtet, Popularität in der Bevölkerung zu erlangen. Zjazikow stattete seinen Clan mit Posten und finanziellen Mitteln aus und regierte, indem er den Ausnahmezustand zur Regel werden ließ. Sein angeblicher Kampf gegen den Terrorismus führte im Sommer 2007 schließ­lich beinahe zu seiner Absetzung. Die Zahl der Anschläge, Morde und Entführungen hatte die in Tschetschenien längst übertroffen. Zjazikow ließ zusätzliche Sondereinheiten der Polizei aufmarschieren, was jedoch zu einer Zunahme bewaffneter Überfälle auf Angehörige der Sicherheitskräfte führte. Die wiederum beseitigten angebliche Terroristen, ohne Beweise für deren Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen vorzulegen.

Von separatistischen Stimmungen gab es bei Zjazikows Amtsantritt kaum eine Spur, doch nach und nach formierte sich eine in der Öffentlichkeit sichtbare politische Opposition gegen die Herrschaft des ungeliebten FSB-Generals. Der Ruf nach seiner Absetzung verhallte allerdings, die Kritiker Zjazikows wurden bedroht. Wegen der zugespitzten Lage mochte kaum ein Oppositioneller seinen Namen offen nennen.
Magomed Jewlojew war einer der wenigen, der dies nicht scheute. Die auf ihn in den USA registrierte Internetseite ingushetiya.ru war der inguschetischen Führung schon lange ein Dorn im Auge, denn seit Journalisten zunehmend Schi­kanen durch die Sicherheitskräfte ausgesetzt sind, berichten andere Medien kaum noch über die haarsträubenden Zustände in der nicht einmal ei­ne halbe Million Einwohner zählenden Kaukasusrepublik. Jewlojews Kritik an Zjazikow steigerte sich nach dem phantastischen Ergebnis der Partei »Einiges Russland«, die bei den letzten Par­lamentswahlen in Inguschetien fast 99 Prozent der Stimmen gewonnen haben will. Der ihm nahegelegten Schließung seiner Webseite widersetzte er sich hartnäckig, was ihm ein Strafverfah­ren wegen Volksverhetzung einbrachte und seine Bewegungsfreiheit stark einschränkte.
Ende August wurde Jewlojew schließlich durch einen Kopfschuss getötet. Seine Angehörigen sind sich sicher, dass es sich um eine Art Hinrich­tung gehandelt hat, während der offiziellen Version des inguschetischen Innenministeriums zufolge Jewlojew während der Fahrt in einem Milizwagen zu einem Verhör versucht haben soll, einem Milizionär die Waffe abzunehmen, wobei sich der Schuss gelöst habe. Nach dem Mord an Jewlojew ging die Opposition nun erstmals so weit, die Unabhängigkeit von Russland zu fordern. Die Chancen der Separatisten mögen derzeit bei null liegen, aber die politische Tendenz ist nach Ansicht von Alexander Tscherkasow durchaus ernst zu nehmen.
In Tschetschenien hingegen hat der politische Separatismus eine lange und gefestigte Tradition. Das vergebliche Streben nach staatlicher Unabhängigkeit kostete in Tschetschenien in zwei Kriegen Zehntausende Todesopfer. Die Wahrnehmung der tschetschenischen Bevölkerung für separatistische Strömungen in der Region ist äußerst geschärft. Dass die russische Regierung mit dem Verweis auf georgische Gewalttaten im Falle Südossetiens dessen Unabhängigkeit anerkannte, wird in Tschetschenien als Doppelmoral verurteilt. Mit offenen Äußerungen halten sich tschetschenische Politiker allerdings diskret zurück.
Die Führung der in Russland gerne als Musterbeispiel für Reintegration und Befriedung gelobten tschetschenischen Republik verfolgt eine unverhohlene Doppelstrategie. Präsident Ramsan Kadyrow agiert einerseits als unangefochtener Alleinherrscher im Dienste der Zentralregierung und gibt sich als Garant für die Zugehörigkeit zu Russland. Zudem profitiert er von den hohen Subventionszahlungen aus Moskau.
Andererseits etablierte er nicht nur eine unkontrolliert agierende Ordnungsmacht mit Hilfe des ihm unterstellten tschetschenischen Sicherheitsapparats, er trägt auch einen immer offeneren Machtkampf mit den dem russischen Verteidigungsministerium unterstehenden Truppen aus. Im Juli forderte Kadyrow seine Verwaltungschefs auf, praktische Schritte gegen das russische Militär einzuleiten, das für Tschetschenien unentbehrlichen Grund und Boden für sich beanspruche. Kein anderer Präsident oder Gouverneur in Russland kann sich ein derart dreistes Vor­gehen leisten, ohne seinen Kopf zu riskieren.

Kadyrow will die Autonomie Tschetscheniens erweitern, und wie ein Großteil der heutigen politischen und bürokratischen Führung hat er einst selbst in separatistischen Strukturen gekämpft. Möglicherweise wird er die alten Ideen wieder auf­greifen, wenn ihm die Situation günstig erscheint. Selbst unter Tschetschenen im Exil finden Kadyrows politische Bestrebungen durchaus Anerkennung. Im Auftrag des Präsidenten begab sich Anfang August der ehemalige Verteidigungsminister Magomed Chambijew in diplomatischer Mission auf eine Reise nach Westeuropa. Sein in Italien lebender Bruder, ebenfalls ein ehemaliger Minister, gab daraufhin seine Rückkehr nach Tschetschenien bekannt. Schließlich steht Kadyrows Kooperation mit der russischen Regierung einer Machtkonsolidierung keinesfalls im Weg. Der heutige durch die Zentralregierung gestützte Status Tschetscheniens könnte früher oder später zur Grundlage für erneute Sezessionsansprüche werden.
Auch in Baschkortostan oder den Kaukasusrepubliken Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien und Adygeja könnte die Stimmung in Anknüpfung an die frühen neunziger Jahre wieder zugunsten separatistischer Tendenzen um­schlagen. Unter dem ehemaligen Präsidenten Wladimir Putin hatte die russische Führung das Kapitel Separatismus für beendet erklärt. Nun hat sie selbst dafür gesorgt, dass separatistische Tendenzen erneut Auftrieb erhalten.