Der Abschwung der deutschen Wirtschaft

Schokolade für die Arbeiter

Aufschwung war gestern. Auch wenn die vorausgesagte Krise für die Unternehmen nicht so schlimm ausfällt – die Beschäftigten werden wieder auf »harte Zeiten« eingeschworen.

Normalerweise stellt man sich Krisenzeiten so vor: Riesige Menschenschlangen bilden sich vor den Arbeitsämtern und Banken, die Löhne sinken, Gewerbeflächen stehen leer, Produktionsanlagen sind verlassen, auf den Straßen wächst das menschliche Elend. Der Sozialromantiker sieht außerdem Demonstrationen unter roten Fahnen vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen. Lässt man die Demonstrationen weg, so prägen diese Merkmale den Alltag im Spätkapitalismus, also auch die Zeiten des Aufschwungs. Da sich die allgemeine Wahrnehmung von Aufschwung und Abschwung immer mehr angleicht, verändern sich natürlich auch die Indikatoren für die nahende Krise.

Etwa seit August kündigen daher die unspek­ta­ku­lärsten aller Erscheinungen von Trendwenden den kommenden Abschwung der deutschen Wirt­schaft an: Umfragen. Den Anfang machte das stramm auf der Seite der Unternehmer stehende Münchener Ifo-Institut mit seiner monatlichen Um­frage bei 7 000 Bossen bezüglich ihrer Ge­schäfts­erwartungen. Der »Geschäftsklimaindex« sank um fast drei Punkte, von 97,5 auf 94,8, auf den geringsten Wert seit 15 Jahren.
Dieser »Hiobsbotschaft« folgten in kurzer Folge die Ergebnisse der Umfrage unter 350 Börsen­analysten des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, die Kurseinbrüche von durchschnittlich über zwei Prozent erwarten, und die Prognose eines Konsumrückgangs seitens der Gesellschaft für Konsumforschung. Zuletzt korrigierte noch die OECD ihre Wachstumsprognose für die deutsche Wirtschaft von 1,9 auf 1,5 Prozent für das Jahr 2008. Mittlerweile haben sich auch das Institut für Weltwirtschaft in Kiel und das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle den Rezessionserwartungen angeschlossen.
Einen der sichersten Indikatoren aber stellt die gestiegene Süßwarenproduktion dar, die um mehr als vier Prozent zulegte. Diese Zahl kündigt, verlässlich wie kaum eine andere, eine Krise an.
Sollten sich die Prognosen bestätigen, wäre der als Erfolg der Agenda 2010 gefeierte vierjährige Aufschwung, dessen Folgen auf dem Arbeitsmarkt kaum und bei den Löhnen überhaupt nicht wahr­nehmbar waren, schon wieder vorbei. Vor allem der Rückgang von Aufträgen in der Exportwirtschaft, die zuletzt einen entscheidenden Anteil an den steigenden Gewinnen der deutschen Industrie hatte, dürfte dafür oberflächlich betrachtet verantwortlich sein. Er resultiert aus den Rezessionen in Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien und den hohen Energiepreisen, in deren Folge wiederum die Binnennachfrage noch weiter absank.

Hinter den immer kürzeren Konjunkturzyklen, bei denen sich Zeiten der Krise und der Hochkonjunktur immer weniger deutlich voneinander unterscheiden, verbergen sich im Kern allerdings die wachsenden Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals. An die scheint man sich mitt­lerweile aus Mangel an Alternativen erstaunlicher­weise gewöhnt zu haben. Von Massenhysterie oder gar den politischen Forderungen eines neuen dynamischen reformistischen Lagers fehlt zumindest hierzulande jede Spur.
So kann man ohne jeglichen sozialen Druck das Wetteifern der verschiedenen ökonomischen Schulen und ihrer politischen Agenten beobachten. Während vor allem in den USA, aber auch in Spanien Maßnahmen zur Belebung der Konjunk­tur ergriffen werden, die Regierung Brown in Großbritannien Hilfsprogramme für Hausbesitzer verabschiedet und selbst Nicolas Sarkozy in Frankreich großzügig Steuergeschenke verteilt, hält die Bundesregierung an ihrem Ziel fest, bis zum Jahr 2011 einen ausgeglichenen Haushalt vor­weisen zu können. Und dies zumindest politisch mit einigem Erfolg. So konnte sich Peer Steinbrück (SPD) beim Treffen der EU-Finanzminister in Nizza mit der Forderung nach Haushaltskonsolidierung gegen einige namhafte Kollegen durchsetzen und Europas Wirtschaftspolitik für die nächsten Jahre bestimmen.
Wie so häufig bietet der Kapitalismus immerhin allerhand Paradoxes. Während gerade die von vielen Europäern als neoliberal verachteten USA alles dafür tun, die weltweite Nachfrage wieder wachsen zu lassen, üben sich die nord- und mitteleuropäischen Staaten, allen voran Deutsch­land, in marktradikaler Phraseologie und Praxis, beinahe so, als sollte Brünings Deflationspolitik als Farce nachgespielt werden. Inwiefern dies außenpolitisch intendiert sein könnte, wie es damals vor allem war, wird man in Zukunft beobach­ten können.
Demgegenüber zeigen sich innenpolitisch die ersten Konsequenzen dieser Politik schon jetzt. Zwar ist die Zahl der Arbeitslosen bisher noch nicht wieder gewachsen und die Einkommens­erwartung der Beschäftigten stieg nach den Zahlen der GfK auf den höchsten Wert seit fünf Jahren, nachdem die Reallöhne jahrelang gesunken waren. Dennoch deutet sich bereits an, dass die Unternehmer die Rezession bei allen passenden Gelegenheiten als Argument in ihrem Sinne anführen werden. Sowohl im Tarifstreit des Öffent­lichen Dienstes als auch hinsichtlich der Forderungen der IG Metall für die kommenden Tarifverhandlungen, immerhin den höchsten seit 16 Jahren, werden die Bosse nicht müde, auf die kommende Krise hinzuweisen. Mit Erfolg. So haben sich die Experten der gewerkschaftsfinanzierten Hans-Böckler-Stiftung bereits dahingehend geäußert, dass in der Metallbranche die »Ver­teilungsspielräume weitgehend ausgeschöpft« seien. Auch der Vorsitzende der IG Metall, Bert­hold Huber, äußerte sich bescheiden. Er erwarte »sehr schwierige Verhandlungen«.

Als kleiner Exkurs sei noch angefügt, dass, wäre es nicht seit den siebziger Jahren schon mehrfach geschehen, dieses ganze Szenario auch den Ausgang einer alten Debatte unter Marxisten endgültig entscheiden helfen könnte. In den fünf­ziger Jahren ging vor allem Cornelius Castoriadis, der bekannteste Theoretiker der Gruppe Socialisme ou Barbarie, davon aus, dass der Grund für die steigende Inflationsrate, welche die Krise auslöse, im »wachsenden Druck der Lohnabhängigen zu höheren Löhnen, weniger Arbeitszeit und im wachsenden Maß für Veränderungen der Arbeitsbedingungen« zu suchen sei. Dieser Sicht schlossen sich gegen Ende der sechziger Jahre die Anhänger der operaistischen Schule vor allem in Italien und den USA an. Entgegen der vor allem von Paul Mattick vertretenen objektiven Krisentheorie sollten also gerade die reformis­tischen Dynamiken für die Krisen in einem an­sons­ten stabilen Kapitalismus verantwortlich sein. Mochte dies aus der Perspektive des langen Nachkriegsaufschwungs noch eine gewisse Plau­sibilität beanspruchen, so stellte sich dieser Ansatz später als unhaltbar heraus.
Auch derzeit deutet sich an, dass die Krise keineswegs die Folge eines veränderten »Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen« – der moderne Linke verzeihe diesen Ausdruck – ist. Im Gegenteil, erst mit jeder neuen Krise verändert sich jenes Kräfteverhältnis. Die Hoffnungen, die Mattick und andere aus einer richtigen Analyse heraus in die während der Krisenzeiten aufkeimenden Kämpfe und die daraus resultierenden sozialrevolutionären Implikationen hatten, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil, die permanen­ten Krisen seit den siebziger Jahren haben, genau wie es derzeit wieder zu erwarten steht, den Angriffen auf die Beschäftigten immer wieder neue Anlässe geliefert. Denen bleibt nur noch die Flucht in Schokolade und Bonbons.