Das Werk von Franz Baermann Steiner

Der Fremde

Er wollte kein Europäer mehr sein, aber ­begründete dies auf die europäischste Weise. Über 50 Jahre nach seinem Tod liegt das vielgestaltige und über­raschende Werk des Dichters und Ethnologen Franz Baermann Steiner vor. Ein ­Hinweis

Franz Baermann Steiner (Baermann ist der Nachname des Großvaters mütterlicherseits) war ein deutschsprachiger Jude aus Prag. Deutschland hat er kaum oder gar nicht gekannt, wenn er es auch kennenlernen musste: Seine Eltern wurden im Oktober 1942 in Treblinka ermordet; auch der größere Rest der Familie fiel den Deutschen in die Hände. Es gibt Gründe zu vermuten, dass es dieses Ereignis ist, welches den endgültigen Bruch nicht nur mit der deutschen, sondern auch mit der europäischen Kultur und Zivilisation nach sich zieht. Er hat sich freilich in den Jahren davor abgezeichnet.
Schon seit 1939 arbeitet Steiner in Oxford an seiner Doktorarbeit über Sklaverei. Seine Themen haben oft etwas Düsteres; unfreie Institutionen, Verstoßene, Tabus. Seine Prosa ist intelligent und kühl, durchschossen von kaustischem Humor und bösem Spott. Als Objekt seiner Spötterei muss fast immer die protestantisch inspirierte Aufklärung dienen, die das Dämonische in ein fernes Mittelalter, zu den barbarischen Völkern verlegt.
Steiner kommt zu dem genau entgegengesetzten Schluss: Nicht vor der Moderne, sondern in der Moderne wohnt der Schrecken, nicht jenseits des Westens, sondern in ihm. 1944 schreibt er: »Der dämonische Bereich ist innerhalb der Gesellschaft. Wird jemand, der in einem Konzentrationslager gewesen ist, glauben, reißende Tiere seien ärger als die menschlichen Peiniger? Und diese Qual ist neu: dieses Fangen von Menschenmassen in dichtmaschigen Netzen, dieses Bauen von Riesenkäfigen, an denen das ›gesunde‹ Leben vorbeiflutet. Es ist dämonischer als die Qualen der Sklaverei, gräßlicher sogar als das Ärgste, was es früher gab: die Religionskriege der europäischen Christenheit.«
In solchen allgemeinen Feststellungen klingt schon die radikale Revision an, deren er die Kulturphilosophie und die Ethnologie seiner Zeit unterzieht. Wollte man die Methode dieser Revision mit einem Stichwort charakterisieren, dann wäre es: Soziologie. Oder, mit einem Vers Steiners gesagt: »Was ist, das ist ein teil.« (»Gebet im Garten am Geburtstag meines Vaters dem ersten Oktober 1947«) Nicht Weltanschauungen, Mentalität, Technologie hält er für geeignet, Gesellschaften zu beschreiben, sondern die Stellung von Menschen zueinander, ihre Unterwerfung unter bestimmte Institutionen, ihre Ausgrenzung aus anderen.
Hier macht sich sicherlich die Dialektik der marxistischen Klassiker geltend. Steiner gehört in jungen Jahren der KP an und bleibt, trotz seiner Entfernung vom orthodoxen Marxismus, Sozialist bis an sein Ende, eine Haltung, die er mit seiner wachsenden Frömmigkeit zu vereinbaren weiß. Aber wichtiger für ihn wird Aristoteles’ Begriff des Menschen als eines »zoon politikon« und die Soziologie von Georg Simmel.
Wie Simmel interessiert ihn die »Wechselwirkungsform«. Er klopft substanziell gebrauchte Begriffe darauf ab, ob sie nicht »Referenztermini« sind, relationale Begriffe. Ein König ist ein König nur, weil er über ein Reich herrscht, und nicht, weil er eine königliche Persönlichkeit wäre. Oder, mit einem Beispiel Simmels illus­triert, das zentral für Steiners Arbeit wird: Der Fremde ist nicht fremd, weil er sich fremd fühlt. Er ist auch nicht fremd allein deshalb, weil er anders ist. Fremd ist er immer nur in Bezug auf eine Gruppe. »Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst, nicht anders als die Armen und die mannigfachen ›inneren Feinde‹ – ein Element, dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein Außerhalb und Gegenüber einschließt.« (Simmel, »Soziologie«, 1908)
Auf diese Weise fasst er das Problem der Sklaverei neu. Sklave ist für ihn der Mensch ohne Verwandte, derjenige, der da ist und doch nicht dazugehört, deshalb keine Rechte hat, auch nicht das elementare auf Leben. Auffällig ist, wie Steiner aus dem Wort »Sklave« die ethnische Zuschreibung heraushört. Schon im 8. Jahr­hun­dert ist »Sklave« der »unfreie Slawe«.
Derselbe Mann, der in Gesprächen mit Kollegen und Freunden den Tod seiner Eltern höchst selten erwähnt, hat sich in seinen Studien doch nie eines Themas angenommen, das nicht eine direkte Verbindung mit seinem Schicksal besäße. Nicht ohne Grund sind die Roma aus den Karpaten im Jahr 1937 Ziel seiner ersten und letzten Feldforschung (von der sich übrigens groß­artige Fotografien erhalten haben). Der Sklave, der ein Slawe ist, ein Besuch bei den Roma, kurz bevor ein Viertel oder gar die Hälfte von ihnen ausgelöscht wird – Steiner tut seine Arbeit im Schatten der Vernichtung.
Es wäre allerdings ein großes Missverständnis, seine ethnologischen und kulturkritischen Studien, selbst seine Gedichte für indirekte Autobiographie zu halten. Sie wollen ja gerade weg vom Ich, hin zum Andern. Sie verteidigen nicht wie so viele die Errungenschaften des Humanismus gegen die Barbarei, sondern sehen im Gegenteil die in Antike und Renaissance ausgebildete, von Aufklärung und Technik vollendete Zivilisation als gescheitert an. Es ist keine bequeme Lektüre, es ist keine angenehme Kritik. Diese kulminiert in dem ebenso scharfsinnigen wie zerstörerischen Büchlein »Taboo«, das in zwölf Vorlesungen zwischen 1950 und 1952 niedergelegt, und 1956, kurz nach Steiners Tod, veröffentlicht worden ist.
»Taboo« nimmt wie schon die Dissertation seinen Ausgang bei der Etymologie des Wortes selbst. Es ist ein begriffsgeschichtliches, epistemologisches, ja dekonstruktives Unterfangen. Und die Etymologie liefert auch die erste Pointe. Denn das polynesische tapu heißt wörtlich »etwas deutlich Gekennzeichnetes«. Der Welt bekannt wird dieses deutlich Gekennzeichnete aber gerade dann, als es seine deutliche Kennzeichnung verliert und aus seinem gesellschaftlichen Zusammenhang gerissen wird – allerdings nicht zufällig. Denn Steiner hält es für alles andere als einen Zufall, dass ein »Protestant aus dem Norden«, nämlich Captain Cook, der Erste ist, der Tabubräuche beschreibt.
Dem Viktorianer müssen die polynesischen Tabus auffallen, weil er aus einer Gesellschaft stammt, die von ganz eigenen Tabus bestimmt ist. Durch und durch rational organisiert, haben die Viktorianer alles Irrationale, Unverwertbare und Verstörende isoliert und mit Verboten umstellt. Wenn Steiner das Tabu als einen wertbezogenen (religiösen) Umgang mit der Gefahr fasst, dann zeigt sich, dass er hier und da kategorial unterschiedlich ist: Der Polynesier hebt behutsam Gefahrenzonen hervor, setzt sich in eine Beziehung zu ihnen, der Europäer versucht, die Gefahr zu kontrollieren, aber seine Kontrolle ist gefährlicher als die Gefahr selbst. Unfähig, sich die eigene prekäre Stellung zu vergegenwärtigen, muss sich der Europäer vor dem fürchten, was ihm an den polynesischen Sitten irrational erscheint, aber er fürchtet sich im Grunde vor sich selbst; »so schlachten sie die eigne, kleine wildheit/Im bruderleibe mal um mal« (»Elefantenfang«).
Bei James Frazer, dessen Tabulehre bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts führend ist, wiederholt sich die Abspaltung, die seine Gesellschaft vollzieht, noch einmal in der Theorie. Was an Religionen, ihren Geboten und Verboten, was an tradierten Sitten nützlich erscheint, wird rationalisiert und gerettet, alles andere dem Irrationalen, Magischen, Primitiven zugeschlagen und der dünkelhaften Verachtung preisgegeben. »Man beachte, dass Frazer (…) das einfache Tabu mehr oder weniger so beschreibt wie die ›vernünftigen‹ Vorschriften bei ähnlichen Ereignissen in seiner eigenen Gesellschaft, für das strikte Tabu jedoch ein schockierendes, wenn auch leicht komisches Bild allgemeiner Dunkelheit, zum Schweigen gebrachter Tiere etc. heraufbeschwört.«
Diese Ethnologie offenbart den Ethnologen und seine Gesellschaft. Es ist eine Gesellschaft der Angst und der Ausgrenzung. Hier bestätigt sich die Beobachtung, die Steiner bereits in seinem Pamphlet über den »Prozess der Zivilisierung« (1944) gemacht hat: Statt der Gefahr ins Auge zu sehen, vermehrt sie der unreife Westen im Versuch, sie auszuschalten, um ein Vielfaches. Er verdeckt, er verfemt, er vernichtet. »Nie werde ich es vergessen, wie gemütlich und komisch sich ein Gewitter ausnahm, das ich kurz nach einem Bombenangriff erlebte, wie kindlich rührend jene Kräfte wirkten, vor denen die Menschheit jahrtausendelang gezittert!«
Steiner betrachtet die Tabus der Tabutheoretiker von Wundt über Freud, Lévy-Bruhl bis Margaret Mead; am ärgsten zaust er seinen eigenen Lehrer, Alfred Radcliffe-Brown. Zwei Schlüsse zieht er am Ende. Der erste betrifft die Polynesier und alle Nicht-Europäer, der andere die Europäer selbst. Was die Anderen betrifft, hält er es für unmöglich, deren Tabubräuche angemessen zu beschreiben, solange sie nach der »Wenn-ich-ein-Pferd-wäre-Methode« psychologisiert und taxiert werden. Kein Ethnologe könne religiöse Bräuche begreifen, wenn er nicht zuerst mit Robert Ranulph Marett einsehe, dass Religion nicht etwa als Glaubensartikel, sondern als »Produkt des korporativen Lebens«, als »Phänomen menschlicher Beziehungen« aufgefasst werden muss. Soziologie!
Tatsächlich hat sich die Ethnologie wenige Jahre nach Steiners Tod in der von ihm vorgezeichneten Richtung weiterentwickelt. Außer Mary Douglas hat ihm kaum jemand seine Pionierarbeit gedankt. Ungleich weiter reichen allerdings die Erkenntnisse, die er in seiner Arbeit über die Europäer selbst gewinnt. Diese Erkenntnisse besitzen einige Sprengkraft, sind hochproblematisch und zugleich faszinierend. Am deutlichsten finden sie sich in einem langen Brief ausgeführt, den Steiner an Mahatma Gandhi schreibt.
Bekanntlich rät Gandhi den deutschen Juden nach der Pogromnacht 1938 zu gewaltlosem Widerstand. Dieser törichte Rat ruft weltweit Proteste hervor, die Gandhi nicht davon abhalten, Mitte der Vierziger die heimatlos gewordenen Juden weg en ihrer Siedlungspolitik zu tadeln. Es gehe nicht an, dass sie auf arabischem Boden mit Gewalt einen europäischen Staat errichten wollten. Steiner antwortet auf diese Vorhaltungen mit dem verblüffenden Argument, die Juden seien gar keine Europäer, sondern seien von jeher »Fremde in der europäischen Kultur« gewesen; sie seien eine »orientalische Nation«.
Um dieses Argument zu verstehen, muss man wissen, dass es innerhalb des Zionismus eine mit Theodor Herzl konkurrierende Gruppe gegeben hat, die sich um Ahad HaAm scharte. Dessen kultureller Zionismus plädierte für eine Orientierung an der jüdischen Tradition und für ein gedeihliches Zusammenleben mit den Arabern, eine »semitische Symbiose«. Noch die von Martin Buber und Gershom Scholem mitgegründete »Brit Shalom«, der Steiner nahesteht, beschreitet diesen Weg. Doch die Brit Shalom wird bereits 1931 vom Zionistenkon­gress ausgeschlossen, und als Steiner 1946 seinen Brief schreibt, ist der Traum eines kulturellen Zionismus, gar einer Theokratie längst ausgeträumt. Wie Hannah Arendt nüchtern feststellt, ist die Gründung des Staates Israel ein Politikum, das die alte Brüderlichkeit beendet.
Steiner muss bald eingesehen haben, dass seine kulturzionistischen Vorstellungen zum Scheitern verurteilt sind. Alle Einladungen nach Israel schlägt er aus. Dennoch bietet sein Brief an Gandhi den Schlüssel zu seiner Kulturkritik. »Die Macht Europas wurde auf den Ruinen unseres Tempels errichtet«, heißt es darin. Antisemitismus und Imperialismus gehörten untrennbar zusammen. Die christlichen sind, wie schon die römische, expansive und mehr als diese missionarische Gesellschaften. Er erblickt im Judentum, aber auch in anderen, von ihm als uneuropäisch begriffenen Kulturen eine Alternative zur westlichen Aggression und appelliert an Gandhi, die Nicht-Europäer sollten untereinander solidarisch sein. Wie die Herausgeber der wissenschaftlichen Schriften in ihrem Nachwort schreiben, fehlt Steiner in der westlichen Gelehrsamkeit »eine befriedigende Form des Umgangs mit ›Andersartigkeit‹ von der Art, wie sie polynesischen, jüdischen und indischen Gesellschaften (in je unterschiedlicher Weise) eigen ist oder war«. Und, darf man hinzufügen, was ihm bei den Gelehrten fehlt, fehlt ihm in Europa insgesamt.
Im Herzen dieser erstaunlichen Kritik findet sich also eine Utopie, auf dem Grund von Steiners Bitterkeit ein enttäuschter Romantizismus. Von dem Brief an Gandhi abgesehen, werden diese Sehnsüchte kaum je artikuliert. Im Gegenteil sind selbst die Gedichte von der Überzeugung getragen, dass es Werte nur in einer von Leiden erfüllten Welt geben könne. Dabei stellt aber – anders als in der christlichen Leidensmetaphysik – das Leiden selbst keinen Wert dar. Die stete Linderung des Leidens, die umsichtige Abwehr der Gefahr sind für Steiner die eigentlichen Leistungen des Menschen. Es sind religiöse, gesellschaftliche Leistungen. »O daß sich erbarm das erbarmen der schreie auf dem meer, / Aller, die irren auf dem meer. / Verzweifelt oder standhalten auf dem meer.« (»Gebet im Garten«)
In den Jahren vor Steiners Tod – er stirbt 1952, mit 43 Jahren, an einem Herzinfarkt – steht die Dichtung im Vordergrund. Es ist trotz ihrer Schlichtheit eine reflektierende, eine intellektuelle Dichtung, eine mythologische »Verdichtung«. Wie H.G. Adler in seinem vividen Porträt des Freundes schreibt, hat der unglückliche, rastlose Mann immer gelebt und gedacht wie ein europäischer Intellektueller. Ein Fremder in Prag, mehr noch in Oxford, befand er sich stets zugleich innerhalb und außerhalb der intellektuellen Kreise. Das erklärt, weshalb er mehr gewusst hat als andere.