Beate Klarsfeld im Gespräch über 50 Jahre Verfolgung von NS-Tätern in Deutschland

»Sich selbst engagieren!«

Beate Klarsfeld arbeitet zusammen mit ihrem Mann Serge seit Mitte der sechziger Jahre aktiv an der Aufklärung von NS-Verbrechen. Die 69jährige deutsch-französische Journalistin lebt in Frankreich.
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Vor 50 Jahren wurde die Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg gegründet. Wie fällt Ihr Resümee für diese 50 Jahre staatsoffizieller Nazi-Verfolgung aus?

Es war eine sehr gute Sache, dass man diese Zentrale Stelle geschaffen hat, um die Verfahren gegen NS-Verbrecher in der Bundesrepublik voranzutreiben. Wir haben auch viel mit dieser Stelle zusammengearbeitet. Aber zum Beispiel sind die Akten für den Kurt-Lischka-Prozess nicht aus Ludwigsburg zur Staatsanwaltschaft nach Köln gekommen, sondern von unserer Gruppe, den »Fils et filles des déportés juifs de France«. Das Lischka-Verfahren ist also praktisch direkt von uns eingeleitet worden, von den Überlebenden und ihren Kindern, deren Geschwister oder Eltern deportiert worden waren. 1971 haben wir begonnen, die Akten zusammenzustellen über Lischka, Herbert Hagen und Ernst Heinrichsohn, also den Hauptverantwortlichen für die Deportation der Juden aus Frankreich.
Zu dem Zusammentragen der Akten kam noch die Schwierigkeit, dass der Bundestag einen Vertrag ratifizieren musste, damit diese Verfahren überhaupt vor deutsche Gerichte gebracht werden konnten. Um den nötigen Druck aufzubauen, mussten wir auch andere Aktionen machen, auch militante, wie der Plan, Kurt Lischka zu entführen. Mitglieder unserer Gruppe sind dafür ins Gefängnis gegangen, wurden von der Polizei geschlagen. Mit unseren Aktionen haben wir es aber erreicht, dass 1979 das Verfahren eröffnet werden konnte. Im Februar 1980 wurden alle drei Männer verurteilt: Hagen zu zwölf, Lischka zu zehn und Heinrichsohn zu sechs Jahren.

Sie waren auch an anderen Fällen beteiligt.

Ja, auch was die Aufdeckung von NS-Tätern im Ausland anging, also Alois Brunner in Syrien oder Klaus Barbie in Bolivien, war das eher unser Verdienst. Barbie ist nach Lyon ausgeliefert und dort zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Bei Brunner haben wir wirklich alles versucht, und es gab Auslieferungsanträge aus Frankreich, Deutschland und Österreich, aber mit dem syrischen Regime war nichts zu machen, und Brunner ist vermutlich dort verstorben. Auch an den Ermittlungen gegen Walther Rauff, der in Chile untergetaucht war und dort bis zu seinem Tod blieb, war die Zentrale Stelle nicht beteiligt. Rauff war derjenige, der die ambulanten Gaskammern erfunden hatte, bei denen die Juden in Lastwagen vergast und dann im Wald in Massengräber geworfen wurden.
Aber natürlich war es sehr wichtig, dass die Zentrale Stelle in Ludwigsburg eingerichtet wurde. Ludwigsburg sammelte ja nur die Akten und gab sie dann an die zuständigen Staatsanwaltschaften ab, deshalb konnte Ludwigsburg nie selbst Druck ausüben, damit es wirklich zu Prozessen kam. Den haben wir mit Demonstrationen und kleinen Skandalen aufbauen müssen, weil die deutsche Gesellschaft diese Verfahren damals gar nicht wollte.

Wie wichtig war insgesamt das Engagement aus dem Ausland für die Verfolgung der NS-Täter in Deutschland?

Sicher gab es nach den Nürnberger Prozessen, die ja von den Alliierten und nicht von Deutschland geführt wurden, einen moralischen Druck vom Ausland und insbesondere aus Amerika, der auf Deutschland wirkte und zu der Einrichtung der Zentralen Stelle führte. Auch die DDR hat dazu bei­getragen, besonders mit der Veröffentlichung des »Braunbuchs«. Aber außer dem moralischen Druck kam nicht viel aus dem Ausland, mit Ausnahme Israels. Ohne Israel wäre Eichmann vermutlich nie vor Gericht gestellt worden, und auch Simon Wiesenthal hat natürlich eine großartige Arbeit geleistet. Er hat seine Ergebnisse nach Lud­wigsburg gebracht und, wenn dann nichts geschah, kein Verfahren eingeleitet wurde, mit Presse­konferenzen darauf aufmerksam gemacht.

Was wäre für eine effektivere Verfolgung der Täter notwendig gewesen?

Es ist viel versäumt worden. Man hätte viele Verbrechen schneller aufdecken und Verfahren einleiten können. Aber es gab den Beschluss des Bundestags, nach dem man eigentlich nur noch diejenigen belangen konnte, die selber getötet hatten. Wir hatten in unseren Verfahren das Glück, dass wir uns auf Dokumente berufen konnten, wir brauchten keine so genannten Augenzeugen. Zum Glück, denn Augenzeugen wurden zum Teil vor Gerichten von den Anwälten der Angeklagten richtiggehend gedemütigt.

Was halten Sie von der Kampagne »Last Chance« des Simon-Wiesenthal-Zentrums, bei der noch einmal alle Kraft auf die letzten offenen Fälle verwendet werden soll?

Das finde ich gut, denn es zeigt den NS-Verbrechern, die noch leben, dass sie immer noch nicht in Ruhe gelassen werden, dass sie immer noch damit rechnen müssen, für ihre Taten bestraft zu werden.

Vor zwei Jahren haben Sie gesagt, die Verfolgung von NS-Tätern sei zu Ende, es habe keinen Sinn mehr, Täter heute noch vor Gericht zu stellen.

Es gibt ja noch Verfahren, wie jetzt der Fall Scheun­graber in München. Und dann wird ja noch Aribert Heim gesucht. Die Zentrale Stelle versucht jetzt auch noch mal, den Fall Demjanjuk anzukurbeln. Aber es ist jetzt alles nur noch eine sym­bolische Sache. Das hohe Alter der Angeklagten macht heute solche Prozesse ja auch schwierig. Wenn es wirklich zu einem Prozess kommt, wird er nach ein paar Tagen unterbrochen wegen des Gesundheitszustands des Angeklagten, nach einem Monat wird er dann ausgesetzt. Es hat nur noch wenig Sinn. Unsere Fälle jedenfalls, bei denen wir uns zuständig fühlten, sind abgeschlossen, und die Täter inzwischen auch alle tot.

Sie haben sich in den vergangenen Jahren mehr für eine angemessene Erinnerung an die Opfer eingesetzt.

Wir haben damals beim Lischka-Prozess eine Liste der 76 000 Deportierten aus Frankreich erstellt, die Dokumentation der Opfer haben wir fortgesetzt. Zuletzt mit der Ausstellung von Fotos deportierter jüdischer Kinder in deutschen Bahnhöfen. Wir machen sehr viel Gedenkarbeit, und diese Arbeit geht weiter.

Welche Konsequenzen für die Zukunft sollten aus dieser Geschichte gezogen werden?

Den Kindern muss man – gerade in der Schule – vermitteln, dass sie sich rechtzeitig gegen jede Form von Faschismus und Antisemitismus auflehnen, dass sie sich selbst engagieren müssen, und nicht darauf warten dürfen, dass eines Tages irgendwas geschieht. Es gibt auch Genozide in der Welt, gegen die man sich engagieren muss. Das sind zwar andere Fälle als der Holocaust, dennoch müsste man die Kinder dazu erziehen, sich dafür zu interessieren und aktiv zu werden. Und natürlich gibt es in Frankreich noch den Front National, in Deutschland, vor allem im Osten, die Rechtsextremen, dagegen müssen sich die Ju­gendlichen engagieren und dürfen nicht zulassen, dass man Anne-Frank-Bücher verbrennen oder den Holocaust leugnen kann.