Über Alexander Kluge und »Das Kapital«

Antike Nachrichten

Alexander Kluge realisierte seine Version von Eisensteins Projekt, Marx’ »Das Kapital« zu verfilmen. Seinen eigenen Ansprüchen wurde er dabei jedoch nicht gerecht.

Im Nachwort zur zweiten Auflage seines Hauptwerks »Das Kapital« notiert Karl Marx 1873, sein Vorgehen erläuternd, dass »sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden« muss. Das heißt nichts anderes als: Marxens Kritik der politischen Ökonomie ist aus guten Gründen ein Buch geworden und kein Theaterstück, keine Oper, keine Fotoserie oder dergleichen. Allerdings bestimmen sich Forschungs- und Darstellungsweise nicht nur durch die Technik, sondern durch das soziale Verhältnis selbst. Mit den sich seit Ende des 19. Jahrhunderts durch Film und Kino ergebenen Möglichkeiten ist die Frage nach dem angemessenen Medium einer Kritik der politischen Ökonomie neu gestellt; kaum einer hat das mehr im Material durchdrungen als Sergej Eisenstein. Und es verwundert nicht, dass Eisenstein mit dem Projekt einer Verfilmung des »Kapitals« plante, »Panzerkreuzer Potemkin« und »Oktober« zu einer Trilogie zu vervollständigen. Das Projekt blieb 1928 ein Manuskript, bestehend aus Skizzen, Tagebucheinträgen, Briefen, Fragmenten.

Nun hat, 80 Jahre später, Alexander Kluge das Projekt wieder aufgenommen und als Text und Film realisiert: »Nachrichten aus der ideologischen Antike«, das sind gut 60 Seiten Buch und drei DVDs. Eisenstein, schreibt Kluge, »kühn und verbohrt, wollte nicht nur ›Das Kapital‹ ›kinofizieren‹, sondern die Filmkunst überhaupt umstürzen und neu aufbauen«. Eisenstein hat das auf seine Art gemacht. Kluge leider auch; er setzt bloß die lethargische Stagnation fort, an der seine Arbeiten seit ungefähr 15 Jahren kranken. Die Differenz zwischen den drei DVDs und dem Textbuch zeigt das. Das Material wird nicht mehr beherrscht, durchdrungen; gute Ideen werden schlichtweg verschenkt. Man muss Kluge, will man ihn retten, gegen sich selbst verteidigen, mit seinen eigenen Worten. Über Eisensteins »Oktober« sagte er: »Er sitzt auf 60 000 Metern Material, d.h. er verfügt über 29 Stunden belichtetes Filmnegativ.« Das passt zu dem, was Kluge über sein Filmbuch »Die Patriotin« sagte: »Um dieses Buch zu verfilmen, müsste man 600 Stunden Film herstellen.« 30 Jahre später sieht es anders aus: Für die »Nachrichten«, gute 60 Seiten, hätte es, um es sarkastisch zu formulieren, ein bündiger Fünfminutenbeitrag auch getan.
Stattdessen eine rasch langweilig werdende, uninspiriert wirkende Fülle an Interviews, Schauspielerei und Wiederholungen von dem, was Kluge seit Ende der achtziger Jahre im Rahmen des Programmfensters der von ihm mitgegründeten Produktionsfirma DCTP experimentell versucht. Heute fehlt allerdings die Sachlichkeit von damals: stattdessen schlechtes Ornament in Form von zusammenhanglos wirkenden Schriftschnitten und Farbverläufen, die Bilder entstehen lassen, die in ihrer Typografie eher an Kaffeefahrt-Werbeprospekte erinnern und kaum den Filmemacher durchblicken lassen, der gegen Einfalt und Arbeitsteilung einmal das reflektierte Autoren­kino setzte.
Was vor zwei Jahrzehnten im Kontrastprogramm zwischen »Tutti-Frutti« und B-Movies provokativ wirkte, ist heute bestenfalls kitschig; Verfahren also, die in die Gegenwart übersetzt ebenso stumpf und hohl sind wie die Wirklichkeit selbst. Alles ist bekannt: Hannelore Hoger, Verweise auf Opern, insbesondere Wagner, noch einmal Karl Korschs Blitzkrieg-Theorie, historische Fotografien. Im Textbuch rekurriert Kluge auf Kants Diktum, dass Begriffe ohne Anschauung leer, Anschauungen ohne Begriffe indes blind seien; und man fragt sich ernsthaft, mit wie viel Ignoranz den eigenen Absichten gegen­über hier Konzepte umgesetzt werden, denn auf den drei DVDs ist von solchen Erkenntnissen nichts zu sehen.

Zudem ist der ganze Zugang zu Marx, zu Eisenstein, zum »Kapital« fragwürdig. Sicherlich kann ein Sozialdemokrat, der Kluge ist, die Sozialdemokratie gut kritisieren, zum Beispiel dafür, dass sie »ihren Marx« nicht gut und richtig gelesen habe. Das ist Kluge etwa in »Die Patriotin« bravourös gelungen und hat auch der Autorenfilmintervention von »Deutschland im Herbst« ehedem eine nötige Schärfe verliehen. Damals ging es um Aktualisierung einer politischen Idee gegen die herrschenden Verhältnisse. Heute scheint es um die Aktualisierung der herrschenden Verhältnisse zu gehen, verkleidet als politische Idee: »Mich interessiert in den Texten von Marx dabei nicht so sehr die Beschreibung der äußeren Ökonomie und ihrer ›Gesetze‹, sondern vor allem der Kapitalismus in uns.« Wenn das jedoch wirklich so ist, was sozusagen den individual-anarchistischen Rest in Kluges Sozialdemokratismus bezeichnet, dann wären aber auch nicht die drei DVDs die Antwort, sondern vielmehr zum Beispiel Kluges erster Langfilm »Abschied von gestern«.
Aber genau mit dieser Blickrichtung bricht Kluge ja, denn nun heißt es eben: Rückkehr in eine ideologische Antike, die Marx & Co. repräsentierten. Doch wer Marx in die ideologische Antike verlegt, katapultiert sich selbst in die theo­retische Steinzeit. Es verwundert also keineswegs, wenn Kluge Marx von Schauspielern in Stasi-Uniformen rezitieren oder ihn als Urmensch verkleidet auftreten lässt. Der bewusste Rückgriff in die Antike ist eine verklärte Antike der Mythologien, für die sich Kluge interessiert. Insofern scheinen Kluges »Nachrichten aus der ideologischen Antike« permanent in eine Antikisierung von Ideologie umzuschlagen. Dazu passt, dass für Kluge am Wichtigsten zu sein scheint, dass Eisenstein sich mit James Joyce getroffen hatte und dessen »Ulysses« zur Vorlage nehmen wollte; dass Eisenstein sich zur selben Zeit auch mit dem Architektur-Modernisten Le Corbusier getroffen hatte, bleibt ausgespart.
Hauptstücke auf den DVDs sind Interviews, bei denen allerdings selbst die Lichtblicke, die sich in den Gesprächen mit Joseph Vogl, Dietmar Dath und Oskar Negt finden, schnell im Sog der nicht enden wollenden, anekdotischen Bildverkettungen verblassen. »De-Anekdotisierung« hatte Eisenstein für seinen »Kapital«-Filmentwurf gefordert – Kluge hingegen setzt das Anekdotische absolut. Den Höhepunkt hat das dann in den Interviews mit Helge Schneider, dessen Masche genau den Bart hat, den er sich als Karl Marx angeklebt hat und der dann albern zur Kopfperücke verrutscht.
Schließlich wäre auch mehr von der Musik zu erwarten gewesen, gerade weil Kluge immer wieder in seinen Arbeiten die Schwelle zwischen Stumm- und Tonfilm thematisiert hat. Immerhin war es Adorno, der 1969 in den Anmerkungen »Zum Erstdruck der Originalfassung« seiner gemeinsam mit Hanns Eisler verfassten Studie »Komposition für den Film« darauf verwies, »dass der junge Film, offenbar in allen Ländern, die Verwendung von Musik prinzipiell kaum durchdachte«, und lapidar hinzufügte: »Ich hoffe, einmal zum Problem gemeinsam mit Alexander Kluge etwas beizutragen.« Aber was ist daraus geworden? Wir hören das längst übliche Musikprogramm: ein bisschen romantische Oper, ein bisschen anstrengende Klaviermusik und ein bisschen ästhetizistische Techno-Geräuschkulisse.
Gehen wir noch einmal zurück zu den Anfängen des deutschen Autorenfilms. Adorno hatte den jungen Kluge, eigentlich ein Jurist (wie Marx), an Fritz Lang vermittelt; seit 1963 lehrte Kluge bereits als Professor an der Ulmer Hochschule für Gestaltung und leitete dort gemeinsam mit Edgar Reitz (»Heimat«-Trilogie) die Abteilung für Filmgestaltung; zusammen mit ihm und anderen initiierte und unterzeichnete Kluge das Oberhausener Manifest von 1962: »Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen.« Nach einigen Kurzfilmen folgt 1966 »Abschied von gestern«. Deutlich tritt hier bereits hervor, was Kluge interessiert: wie sich Gefühle und Erfahrungen jenseits von Bewusstsein und Unbewusstsein, jenseits von individueller Psychologie und kollektiver Identität in menschliches Handeln einschreiben. Zu »Abschied von gestern« hat er selbst eine literarische Vorlage geliefert, die über ein bloßes Drehbuch hinausweist: »Anita G.« ist einer der »Lebensläufe«, Erzählungen, die Kluge 1962 veröffentlichte.

Was Kluge vorhat, weist ins Politische und steht wie selbstverständlich im Zusammenhang mit der außerparlamentarischen Opposition. Den theoretischen Rahmen für seine Arbeit, für seine Filmarbeit ebenso wie für seine spätere Fernseharbeit, hat Kluge zusammen mit dem Soziologen – ebenfalls ein Adorno-Schüler – Oskar Negt in »Öffentlichkeit und Erfahrung« von 1972 entwickelt. Das Buch, mit dem sachlich-prägnanten wie kämpferischen Untertitel »Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit« hat zumindest im deutschsprachigen Raum für die kritische Medientheorie Maßstäbe gesetzt; insbesondere gilt das für das hier entfaltete Konzept der Gegenöffentlichkeit versus Schein­öffentlichkeit(en). Einer der Topoi der Gemeinschaftsarbeit ist die kritische Analyse einer sozialen Verdichtung, die Negt und Kluge »Medienverbund« nennen: Wie kann sich in der spätkapitalistischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der die herrschenden Mächte zwar nicht alles, was sie tun, legitimieren können, aber auch nicht alles legitimieren müssen, noch Widerstand artikulieren?
Eine Frage, die freilich ebenfalls mit Blick auf die Kritik der politischen Ökonomie von Belang ist: Auch sie hätte viel stärker in das »Kapital«-Projekt Eingang finden sollen. Überdies hätte Kluge dann auch weiter bei seinen eigenen Arbeiten anschließen können, vor allem der zweiten großen mit Oskar Negt verfassten Gemeinschaftsarbeit, nämlich an »Geschichte und Eigensinn« von 1981.
Insgesamt also ist mehr zu erwarten gewesen; allein das kleine Textbuch verspricht, was im Film nicht annähernd eingelöst wird: nämlich Gesellschaftskritik. Uneingelöst bleibt diese auch in Hinblick auf die Gegenwart, in die sich Kluges Projekt eher arbiträr einpasst: Das Oszillieren zwischen Subjekt und Objekt, das sich Ende der Zwanziger in der Koinzidenz zwischen Eisensteins Entwurf und der Weltwirtschaftskrise einstellte, fehlt nun. Dabei wäre gerade heute die Aktualisierung der Kritik der politischen Ökonomie nötig; und Kluge gehört doch eigentlich zu jenen, denen das mit Mitteln und Material des Films zuzutrauen ist. Doch herausgekommen ist leider etwas, bei dem genau das fehlt, was Siegfried Kracauer einmal dem Kino als sein innerstes Vermögen zusprach: die Errettung der äußeren Wirklichkeit.