Über den Film »Novemberkind« von Christian Schwochow

Der innere Frost

Vergangenheitsbewältigung, Kälte und Depression: »Novemberkind« ist der perfekte deutsch-deutsche Film zum Herbst.

Der deutsche Mensch im Film, er gräbt gern in der Vergangenheit herum. Weil die, wegen der Verdichtung, viel interessanter scheint als die fade Gegenwart. Meis­tens wird sie deshalb auf die Zeit zwischen ’33 und ’45 verdichtet.
Nun kann aber nicht jeder deutsche Film vom Nationalsozialismus handeln. Bei vielen neueren deutschen Arbeiten, zumal wenn sie Debütwerke sind, verläuft die Komprimierung schon mal anders. Die arbeiten hübsch in der Jetztzeit. Und man darf auch nicht vergessen: Deutschland ist ja nicht nur auf der Suche nach dem Wen­deroman, um die schlimmen Jahre zu vergessen. Sondern auch nach dem Wendefilm, dem ultimativen deutsch-deutschen Stasikino.
Der Staatssicherheit, diesem grausigen Unter­nehmen, mit all seiner Überwachung, Mord und Bautzen, den Sexorgien, geilen Uniformen und dem unbegrenzten Quantum Luxus aus den Schreibtischschubladen Erich Mielkes. Oder war’s nicht so? Nicht allen reicht, was Leander Haussmann dazu macht.
Und so hat Debüt-Regisseur Christian Schwochow eine hochartifizielle Variante auf diesem Terrain anzubieten, gedreht nach dem schönen Skript seiner Mutter Heide, einer ehemaligen DDR-Rundfunkautorin.
Danebenliegen geht jedenfalls anders: Die Dar­stellerin des deutsch-deutschen Wechselbalgs in Schwochows »Novemberkind« ist die 23jährige Anna Maria Mühe, Tochter des kürzlich verstorbenen Ulrich Mühe, dessen Rolle in Florian Henckel zu Donnersmarcks Oscar-Streifen »Das Leben der anderen« die eines Stasi-Offiziers war.
Kinder glauben alles, was man ihnen erzählt. So auch Inga (Anna Maria Mühe). Inga hat Glück, dass sie im Kalten Krieg aufwächst, denn da dürfen die Märchen, die man den Kindern erzählt, für immer Wahrheit bleiben.
Der größte Mumpitz, den man der 25jährigen bis dato aufgetischt hat: Ihre Mutter Anne soll in der Ostsee ertrunken sein, als Inga ein halbes Jahr alt war. Immerhin kann Inga damit bestens leben, das kriegen wir in Cut-up-Technik ge­zeigt: Inga mit ihrer Freundin, Inga mit ihrem Motorrad, Inga mit ihren freundlichen Großeltern, Inga in ihrem freundlichen Dorf irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern, wo sie einen Job als Bibliothekarin hat.
Die nächsten 90 Minuten wird der Film »Novemberkind« alles dransetzen, ihr diese Stabilität zu nehmen. Robert (Ulrich Matthes) taucht auf, Dozent für kreatives Schreiben in Konstanz. Der teilt mit: Muttern ist gar nicht in der Ostsee ertrunken. 1980 ist sie in den Westen geflohen. Er hat sie mal in seinem Creative-Writing-Kurs sitzen gehabt. Ingas Ruhe ist dahin, denn wie jetzt rauskommt: Das ganze Dorf wusste Be­scheid. Schon lange! Selbst die beste Freundin, es ist nicht zu fassen.
Um schlichtweg nichts zu tun und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen, dafür ist Inga nun noch zu jung. Wieso hat die Mutter in den Westen gemacht und sie zurückgelassen? Wo ist sie jetzt? Wieso hat sie sich später nicht gemeldet?
Regisseur Schwochow erzählt die Geschichte des Kalten Kriegs als Geschichte der sitzengelassenen Kinder. Die politischen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg sind ihm Familien­geschichte: Ingas Mutter Anne (ebenfalls von Anna Maria Mühe gespielt) ist gerade 20 Jahre alt und lebt allein mit ihrer Tochter. Denn Vater Alexander (Thorsten Merten) hat die DDR mit sei­nen Eltern per Ausreiseantrag verlassen. Dann läuft ihr Juri (Jevgenij Sitochin), ein Deserteur der Roten Armee, in die Arme. Für den ist Schluss im Ostblock, ihm droht die Todesstrafe. Der einzige Ausweg für die beiden scheint die Flucht in den Westen zu sein.
Anne nimmt Kontakt zu Alexander auf, der ver­spricht, die Flucht über Polen zu organisieren. Am Tag X aber hat das Kind hohes Fieber, Anne hat Bedenken, denn immerhin sollen sie und das Kind lange Zeit im Kofferraum eines Autos zubringen. Anne trifft eine Entscheidung: Sie lässt das Kind bei den Großeltern. Denen erzählt sie, sie gehe mal eben zur Apotheke. Mit Juri gelingt ihr die Flucht über die Ostsee, das Kind will sie später holen.
Juri wird ihr alsbald egal. Alexander, der in Anne verliebt ist und will, dass der russische Sol­dat aus ihrem Leben verschwindet, bietet ihm Geld an, damit er geht. Der nimmt es und verschwindet aus Annes Leben.
Nun inszenieren ihre Eltern mithilfe des ganzen Dorfes die Geschichte vom Unfalltod beim Baden – »Good bye, Lenin« lässt grüßen. Vater Heinrich (Hermann Beyer) ist immerhin Schuldirektor und findet die DDR okay. Der Mauerbau hat seine Ordnung, lernt das Publikum. Wozu Ärger kriegen mit den Behörden? Wo lügen eine Notwendigkeit ist, fällt es besonders leicht. Al­so leben sie ihrem Enkelkind, das sie gut versor­gen, eine Geschichte vor, die sie dann mehr oder weniger selber glauben – und am Ende sogar ver­gessen. Denn Heinrich leidet an Demenz.
Wie man etwas erinnern oder nicht mehr erinnern kann, worin die eigene Geschichte besteht und welche Rechte man auf sie hat – das sind die Themen von »Novemberkind«. Sie werden in grauen Tönen erzählt, das Ensemble um­gibt Kältewölkchen, wenn es spricht. Nicht nur jahreszeitlich herrscht der Herbst, geht es doch ums Allein- und Zurücklassen, den ganzen inneren Frost des Erwachsenwerdens mit seinen unangenehmen Wahrheiten, dem man sich in Ingas Alter wohl oder übel zu stellen hat.
Erzählt wird der Film jedoch aus Sicht des Literaturlehrers Robert, der seine ganz eigenen Motive hat. In seiner Person soll sich die ganze DDR-Geschichte spiegeln, denn er funktioniert hier als Kontrollinstanz, sozusagen als immanen­te Staatssicherheit, die Leben arrangiert.
Gerade erholt er sich vom Krebs, das dicke Ding hat er noch nicht abgeliefert: den Debütroman, der zugleich der von den Feuilletonisten dringend erwartete ultimative Roman über die Wiedervereinigung werden soll. Ingas Biographie und ihre Suche nach der Wahrheit soll ihm die Story liefern. Eine vergleichbare Sauerei eines auktorialen Erzählers wird man in der Literaturgeschichte lange suchen! Der gewiefte West­deutsche fällt hier über die naive ostdeutsche Ureinwohnerin her. »Ich nehme ihr die Identität und biete ihr Lügen«, sagt Robert, wohlwissend, dass man sich für Identität nichts kaufen kann – und: dass es genau umgekehrt ist und die Lüge Erkenntnis wird.
Der vom Krebs gezeichnete Mann hat es mit einer jungen, starken Gegnerin zu tun. Was er tut, glaubt er, wird ihr nicht wirklich schaden. Denn ein reines Opfer ist Inga auch nicht. Auch sie, das ahnen wir, könnte ihre kleinen Verbrechen begehen und Existenz ist eine Anmaßung: Allen Figuren ihrer eigenen Geschichte wird sie begegnen, und sie haben alle, vor allem die Mutter, eine sehr gute Erklärung, warum sie sich nie mehr haben blicken lassen.
Nicht nur die schöne Doppelrolligkeit lässt dop­pelbödig erahnen: Inga ist zwar wütend, hätte sich aber womöglich kaum anders verhalten.
So viel romantische Schwere muss im Herbst spielen, denn im deutschen Herbst blühen nur die blauen Blumen, das heißt, man kriegt gleich eine eingetrübte Stimmung, wenn irgendwo »November« draufsteht. Folglich ist der ganze Film stahlgewittergrau, und das sind die helleren Parts. Man kann der Migräne beim Heran­kriechen zusehen.
Regisseur Christian Schwochow findet ohne Frage die passende Bildsprache: Das Wetter ist so drückend grau, als schleppe es die gesamten einbetonierten achtziger Jahre als Altlast mit sich herum.
Nicht nur die Doppelrollenbesetzung Inga/Anne legt nahe, dass man zwischendurch im Kalten Krieg ruhig mal die beiden Staatsvölker hätte austauschen können.

Novemberkind« (D 2007). Regie: Christian Schwochow, Buch: Christian Schwochow, Heide Schwochow, Darsteller: Anna Maria Mühe, Ulrich Matthes, Christine Schorn, Hermann Beyer, Jevgenij Sitochin, Ilja Pletner, Adrian Topol, Juliane Köhler, Nicole Ernst, Steffi Kühnert, Christina Drechsler. Start: 20.November