Janet Malcoms Essay über Gertrude Stein und Alice B. Toklas

Ring My Bell

Biografien sind ein unmögliches und überflüssiges Genre. Doch wer sie nicht allzu ernst nimmt, kann sie mitunter ganz amüsant finden. Janet Malcolms biografischer Essay über Gertrude Stein und Alice B. Toklas ist amüsant.

Kürzlich verfolgte ich am Radio den Auftritt eines gefeierten Biografen Kafkas. Er gestand freimütig ein, dass er mit der Literatur seines Hel­­den nicht viel anfangen könne. Dafür habe er seit je mit Begeisterung Kafkas Briefe und Tagebücher gelesen und sich dann vorgestellt, er sei Kafka. Und so ist auch seine Biografie ausgefallen: »Kafka wachte mit einem pelzigen Gefühl in seinem Mund auf und dachte: ›Nanu, was ist das denn für ein pelziges Gefühl?‹« oder so ähnlich. Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämt­heit, wenn sie von Kafka sprechen.
Malcolm ist von einem ganz andern Schlag. Sie stellt sich nicht vor, sie wäre Stein oder Toklas. Sie weiß, dass Biografien das enthalten, »was ihr Autor in Erfahrung bringt«, und das ist immer zu wenig. Sie ist klug genug, das, was sie über das berühmteste lesbische Paar des Jahrhunderts in Erfahrung gebracht hat, nicht zu einem Roman zusammenzubacken. Und außerdem ist sie durch die hohe Schule der Reportage des New Yorker gegangen. Ihre Recherche ist nicht nur überaus gründlich, sondern selbst Teil der Story. Der Leser erfährt, wie Stein-Forscher aussehen und was sie zu Mittag essen, er erfährt, wie die Autorin aufgewachsen ist, er erfährt von ihren Irrtümern und dass sie sich mit einer Küchenschere den dicken Band »The Making of Ame­ri­cans« in sechs Portionen geschnitten hat. Denn das Buch war ihr in vielerlei Hinsicht zu schwer.
Malcolm hat nämlich mit dem unglücklichen Kafka-Biografen eines gemeinsam: Sie kann mit der modernen Literatur, mit der Steins ins­be­son­­dere, nicht viel anfangen. In ihr hat sie das Gefühl, »als ungebetener Gast in der falschen Nacht ein dunkles Haus zu betreten«, was sie allerdings nicht sehr aufregend findet. Sie klagt über »experimentelle Ödnis«, nennt jeden, der »The Making« liest, »todesmutig«, gewinnt den Eindruck, dass am Ende dieses Romans sich ein »Mo­rast« ausbreite, »in dem Autorin und Leser gemeinsam versinken«. Als ob das alles nicht ge­nug wäre, glaubt sie, eine Entschuldigung dafür beibringen zu müssen, dass dieses Hauptwerk der Moderne überhaupt geschrieben worden ist; Stein habe gar nicht Schriftstellerin werden wol­len, es habe sich unglücklicherweise so ergeben.
Im Grunde wiederholt sie damit das vernichtende Urteil, das Leo Stein über seine Schwester sprach. »Er sagte es sei nicht es sondern ich. Wenn ich nicht da wäre um mit dem da zu sein was ich tat dann wäre das was ich tat nicht das was es war.« (Gertrude Stein, »Everybody’s Autobiography«) Ihre Literatur werde nur geschätzt, weil sie als Person geschätzt werde. Dass sich eine Biografin eine solche Ansicht gern zueigen macht, ist begreiflich. Malcolm hätte nicht über die Person geschrieben, gäbe es nichts als das Werk.
Aber bedenklich stimmt, dass sie glaubt, das Werk rechtfertige sich durch das Leben seiner Autorin, es sei immer schon biografisch und müsse nur noch entschlüsselt werden. Darin wird sie auch noch von drei führenden Stein-Forschern unterstützt. Solange die Notizbücher nicht veröffentlicht seien, die Stein während der Niederschrift von »The Making of Americans« (1903–1911) führte – so diese drei –, bleibe das Buch »ein akademischer Paria, ungelesen, ungedeutet, unerkannt«.
Die biografistische Perspektive auf Steins Haupt­werk ist allzu simpel: Wie in einer Protago­nistin des Romans, Fanny Hersland, Steins Mutter erkannt werden könne, so müsse nun jeder einzelne Protagonist und jeder einzelne Satz auf irgendein biografisches Urbild zurückgeführt werden, und der Paria könne endlich sein Haupt erheben. Das ist eine literaturfeindliche Ansicht, die jedem, der Steins »grafische Darstellung« kennt, wunderlich erscheinen muss. »Alles ist Fabrikation«, heißt es in diesem Buch und in einem späteren: »Alles als Fläche sehen!« Es geht um Sätze, nicht um Fiktionen, und wenn doch um Fiktionen, so um den Moment, in dem sie flächig werden. Solch ein Denken liegt Malcolm fern. Und doch gibt sie ihm eine interessante Unterlage, wenn sie einen Satz des Malers Maurice Denis erwähnt, der auf Stein große Wirkung ausgeübt hat: »Vergessen Sie nicht: Ein Bild, das ein Schlachtross oder einen Akt oder irgendeine Episode darstellt, ist eigentlich nur eine glatte Fläche, bedeckt mit Farben in bestimmter Anordnung.«
Und natürlich kann auch der, der die Bücher von Stein interessanter als sie selbst findet, nicht leugnen, dass sie viele Zeitgenossen fasziniert hat. Sie lebte mit ihrer Gefährtin in Frankreich und zog auch dann nicht fort, als die Deutschen bedrohlich nahe rückten. Sie selbst hat ihre Wei­gerung, in die USA zurückzukehren, damit begründet, sie sei »so heikel mit dem Essen«. Dieser köstliche Snobismus hätte sie leicht das Leben kosten können. Sowohl Stein als auch Toklas waren jüdischer Herkunft, wenn sie auch die Religion ihrer Mütter nicht praktiziert haben, aber das war den Nazis bekanntlich ganz egal.
Malcolm kann erklären, wie sie davongekommen sind. Ein Gelehrter und Kulturpolitiker namens Bernard Faÿ hielt seine Hand über die beiden und sogar über ihre kostbare Gemälde­sammlung, die um ein Haar von der Gestapo zerstört worden wäre. Dafür verlangte er ein ge­wisses Entgegenkommen; Stein hat ab 1941 Reden Marschall Pétains ins Englische übersetzt. Sie und Toklas haben wohl nicht gewusst, dass Faÿ, ein Denunziant im großen Stil, Hunderte von Freimaurern auf dem Gewissen hat. Vermutlich hätte ihm andernfalls Toklas 1951 nicht bei seiner Flucht aus dem Gefängnis geholfen.
Vermutlich. Man kann darüber streiten. Denn Stein und Toklas waren in politicis konservativ, manchmal reaktionär. Waren sie auch Kollaborateurinnen? Ja, um ihre Haut zu retten. Aber die große Gefahr, in der sie schwebten, blieb ihnen durchaus bewusst. Wären ihnen ihre französischen Nachbarn nicht zu­getan gewesen, wären sie wohl verpfiffen worden. Sie hofften mit jedem Jahr mehr auf die Niederlage der Deutschen. Malcolm kann sogar die wachsende Sympathie des Paars für die militante Résistance, den »Maquis«, belegen.
Solche Recherchen machen ihr Buch wertvoll. Amüsant wird es in philologischen Ent­deckungen wie der, Toklas habe in einem Text Steins sämtliche »may« durch »can« ersetzt, weil sie rasend eifersüchtig auf eine frühere Geliebte Steins, May Bookstaver, war. Doch über Toklas steht in dem Büchlein, das doch mit »Zwei Leben« überschrieben ist, leider zu wenig. Diese hochmusikalische, sehr spröde, scharfzüngige Frau mit einer Vorliebe für exzentrische Hüte und orientalische Gewänder hat sich früh aus den Fängen ihrer bourgeoisen Familie gelöst. Sie habe ihr Leben neu erfunden, urteilt ihre Biografin Linda Simon. »Frauen, die 1877 geboren sind, waren nicht dafür ausersehen, les­bisch zu werden, von häuslichen Pflichten frus­triert zu sein, sich zu weigern, einen der Berufe zu erlernen, welche ihnen offen standen, und Haus und Familie zu verlassen.« Alice Babette Toklas wurde lesbisch, hatte irgendwann die Nase voll davon, die Magd von Großvater, Vater und Bruder zu sein, zog nach Paris und lernte am Tag ihrer Ankunft, am 8. September 1907, Stein kennen. Die Briefe, die sie einer gemeinsamen Freundin geschickt hat, waren ihr vorausgeeilt. Diese Freundin, Annette Rosenshine, zeigte sie Stein und Stein zeigte sich beeindruckt.
Der in praktischen Dingen völlig hilflosen Stein war Toklas fortan nicht nur Mitstreiterin und Mutter. Anders als das Klischee es will, beschränkte sich ihre Rolle nicht darauf, zu kochen, den Wagen zu warten und die Dienst­boten zu instruieren. Sie war vor allem die erste, die »The Making of Americans« gut hieß. Der Text schien ihr eine hohe Musikalität zu besitzen; sie verglich ihn später mit den Fugen Johann Sebastian Bachs. Sie tippte das Manu­skript ab, wurde zu Steins Agentin und sogar zu ihrer Verlegerin. Selbstbewusst, intelligent und energisch war sie wie Gertrude Stein, aber anders als dieser scheint ihr die Meinung der andern ganz gleichgültig gewesen zu sein. Und das war auch gut so. Denn die andern mochten sie nicht.
Jüdinnen und Lesben waren sie beide, aber während Besucher und Freunde bei Stein ihre Ressentiments meist höflich zurückstellten, ließen sie sie auf die tapfere Toklas niederprasseln. »Das Eingeständnis, Alice Toklas nicht recht zu mögen, zieht sich wie ein roter Faden durch die einschlägige Memoirenliteratur.« Auch Malcolm mag nicht widersprechen. Aber das wenige, was sie zu Toklas mitteilt, macht neugierig genug. Ich habe mir Toklas’ Erinnerungsbuch »What is Remembered« (1963) vorgenommen und finde schon auf der ersten Seite ein Beispiel für ihren galligen Humor. Bekanntlich legte Stein ihrer Gefährtin in den Mund, sie habe in ihrem Leben drei Genies kennen gelernt und jedesmal habe in ihr eine Glocke geläutet – »each time a bell within me rang« –, un­überhörbar selbstverständlich am 8. September 1907. Toklas benutzt dieselbe Formulierung, um die Ankunft ihrer Großmutter in San Francisco zu beschreiben. »All the bells were ringing«, alle Glocken läuteten. Was denn hier gefeiert werde, habe die Großmutter gefragt und zur Ant­wort erhalten, auf dem Lone Mountain würden zwei Pferdediebe gehängt.

Janet Malcolm: Zwei Leben: Gertrude und Alice. Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2008, 165 Seiten, 19,80 Euro