Über die neu aufgelegten Texte von Hans-Jürgen Krahl

Der Anti-Autoritäre

Unter dem Titel »Konstitution und Klassenkampf« erschienen 1971 nach seinem frühen Unfalltod die Aufsätze und Reden des SDS-Aktivisten und Theoretikers Hans-Jürgen Krahl. Jetzt wurden die Texte wieder aufgelegt und von Felix Baum gelesen

Wer war Hans-Jürgen Krahl, und welche Rolle spielte er in der antiautoritären Be­wegung von 1968? Neuen Forschungsergebnissen ­zufolge hatte er eine »schnar­rende Stimme, randlose Brille, kurze strähnige Haare mit Scheitel« und pflegte »die delikate Hässlichkeit des späten Konfirmanden«. In seiner Ju­gend verfasste er Kitsch im Geiste der deutschen Mystik. Mit dem Marxismus kam auch gleich der Alkoholismus, »unentwegt« trank Krahl »sein lüttjen Lagen aus Bier und Doppelkorn«, mit Grund, schließlich war er glücklos in der Liebe, ein verklemmter Schwuler, der »alle seine Unglücks- und Verunsicherungsgefühle in den Mantel einer welt- und kul­turgeschichtlichen Großdiagnose fasste«: Kri­tische Theorie als Ausfluss einer kranken Seele. So wurde er nicht nur »Bewegungstramp und Alkoholiker«, sondern auch »amphibischer Kopf­füßler«, mit anderen Worten: ein abgehobener Intellektueller, der seine »soziale Bodenlosig­keit« durch eine »artifizielle Theoriesprache« überspielte und dergestalt zum »einäugigen SDS-Tribun«, zum »Lügenbaron« der linken Studenten avancierte. Konnte das ein gutes Ende nehmen? Konnte es natürlich nicht: Im Alter von 27 Jahren endete er »im Graben«, eine »nahezu schicksalhafte Konsequenz«. Möglicherweise bewahrte ihn sein früher Tod aber davor, bei der RAF zu landen, jedenfalls bewegte er sich in puncto Gewaltfrage »auf Messers Schneide«.
Es liest sich wie eine Klatsch-Illustrierte, ist jedoch der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte entnommen, verfasst von einem, der es vom Maoisten zum preisgekrönten Sachbuchautoren geschafft hat. Gerd Koenens Kolportage verdient nur deshalb Erwähnung, weil sie unfreiwillig bezeugt, wie tief die Ressentiments gegen den radikalen Intellektuellen Krahl bei manchen sitzen und wie verblüffend wenig sie sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt haben: Die Psychiatrisierung des politischen Gegners, das Gepolter gegen »bodenlose« Theorie, die puritanische Geißelung exzessiven Alkoholgenusses entstammen dem Arsenal jenes volkstümelnden Maostalinismus, dem Koenen als hauptberuflicher Funktionär des KBW beinahe ein Jahrzehnt die Treue hielt und vor dem Krahl frühzeitig warnte. »Mit den ersten ML-Tendenzen«, berichtete Detlev Claussen 1985 über den Niedergang der antiautoritären Bewegung, »fielen auch schon die ersten tadelnden Worte über ›Frankfurter Alkoholkonsum‹.«
Vielleicht war es die Ahnung, beim Exorzieren des Geistes von 1968 könne demnächst Krahl an der Reihe sein, die den Verlag Neue Kritik zu einer Neuauflage von »Konstitution und Klassenkampf« bewog, einer erstmals 1971 veröffent­lichten Sammlung von Schriften Krahls, die sich – heute kaum noch vorstellbar – mehr als 14 000 Mal verkaufte. Die zu Lebzeiten Krahls überwiegend unveröffentlichten Texte sind gerade deshalb erheblich aufschlussreicher als spätere Darstellungen der Bewegung von 1968, weil sie nicht im Wissen um deren Scheitern verfasst sind, sondern beinahe verzweifelt nach Möglichkeiten suchen, der Alternative von spon­taneistisch-theorie­feindlicher Aktionshektik und leninistischem Parteiaufbau zu entgehen, die sich bereits 1969 immer erdrückender abzuzeichnen begann.
In gedrängter Form lässt sich an Krahls Schrif­­­ten der Verlauf der antiautoritären Protest­bewegung nachvollziehen, deren organisatorisches Rückgrat der SDS bildete. Während sich die so genannten Traditionalisten im SDS an der Strategie Wolfgang Abendroths orientierten, im Bündnis mit den Gewerkschaften und unter Ausnutzung der Verfassung allmählich zum Sozialismus zu gelangen, fand der antiauto­ritäre Flügel seinen wichtigsten Stichwortgeber zunächst in Herbert Marcuse, der keine Hoffnung in die Arbeiterklasse setzte, auf den re­volutionä­ren Elan von »Randgruppen« hoffte und »die große Weigerung« propagierte. Nicht geduldige Kleinarbeit in Gewerkschaften und Parlamenten, sondern der gezielte Gesetzesbruch durch direkte Aktionen sowie der Anspruch, in den eigenen Reihen die Emanzipation so weit wie möglich vorwegzunehmen, bestimmten die Praxis der Antiautoritären.
Mit Blick auf diese Phase spricht Krahl später selbstkritisch von einem »Vulgärmarcusianismus« des SDS, der der Illusion aufgesessen sei, als privilegierte intellektuelle Randgruppe »eine Art Menschheitsrevolution, ohne Unterschied der Klassen« initiieren zu können. In der Praxis der Protestbewegung setzten sich Marcuses Reflexionen in den kurzatmigen voluntaristischen Versuch um, durch permanente Ak­tionen auf der Straße das versteinerte Bewusstsein »der Massen« aufzubrechen. Auch die frühe Kommunebewegung sieht Krahl als eine »kollektive Privatisierung der politischen Praxis«, die »subkulturell verkommen musste«. Seine Kritik der antiautoritären Bewegung ist allerdings als rettende gemeint: Gerade weil an ihrem toten Punkt ein gespenstisch geschichtsloser Marxismus-Leninismus Auftrieb gewinnt und zugunsten straffer Parteidisziplin die »Austrock­nung des antiautoritären Sumpfs« propagiert, soll sie sich Grundlagen für eine längerfristig angelegte Arbeit schaffen, ihre von »Emanzipationsegoismus« gefärbte »Ideologie der Freiräume« überwinden, die »das Reich der Freiheit als privates Kleineigentum« versteht. Das bis heute bestehende Dilemma von Mitteln und Zielen, der ärgerliche Umstand also, dass der Kampf gegen die historisch obsolete Arbeitsdisziplin nicht allein dem Lustprinzip folgen kann, konnte auch Krahl nur theoretisch reflektieren. Seine Absage an die »Unmittelbarkeitsideologie« des linken Aktivismus bleibt traurig aktuell.
Ohne in die mechanische Vorstellung einer praktischen »Anwendung« kritischer Theorie zu verfallen, ist Krahl bei seinem Studium der über­lieferten marxistischen Theorien von die­sem po­litischen Erfordernis getrieben. Aufsätze wie »Zur Wesenslogik der Marxschen Waren­analyse« lassen sich rückblickend als Beginn des­sen lesen, was heute »neue Marx-­Lektüre« heißt, doch anders als den streng philologischen Arbeiten von Autoren wie Hans-Georg Backhaus, Helmut Reichelt oder später Michael Heinrich ging es Krahl nicht um die Rekons­truktion vermeintlich zeitloser Kategorien, sondern gerade um deren geschichtlichen Wandel. Das heute übliche Verfahren, zugunsten einer klinisch sauberen Wissenschaft vom Kapital alles aus dem Marxschen Werk zu filtern, was irgendwie nach unwissenschaftlicher Geschichtsphilosophie und Revolutionstheorie riecht, stößt zu diesem Problem gar nicht mehr vor.
Nur weil Marx den Anspruch hatte, eine Theo­rie der Emanzipation zu entwickeln, war er für die rebellierenden Studenten überhaupt von Interesse. Doch eben die Einheit von Kapitalkritik und Revolutionstheorie schien Krahl im deutschen Postfaschismus fraglich geworden zu sein. Dieses Problem stand auch im Zentrum der teils bitteren Auseinandersetzungen mit seinem Lehrer Adorno. »Die Zerschlagung der Arbeiterbewegung durch den Faschismus und ihre scheinbar unwiderrufliche Integra­tion in der Rekonstruktion des westdeutschen Nachkriegskapitalismus veränderten den Sinn der Begriffe der Kritischen Theorie. Sie mussten notwendig an Bestimmtheit verlieren, doch vollzog sich dieser Abstraktionsprozess blind«, heißt es in seinem Nachruf auf Adorno.
Dass man in der Protestbewegung eine »Abschleifung der Erfahrung von Nationalsozialismus zu einem gefährlich glatten Begriff von Faschismus« wahrnehmen konnte, wie Detlev Claussen im Anhang des Bandes schreibt, ist sicherlich richtig. Krahl war sich jedoch bewusst, welche Bedeutung die Vernichtung der euro­päischen Juden für das Denken Adornos hatte: »Es ge­hört zu den zentralen Erfahrungsgehalten der Kritischen Theorie, zumal der Adornos, dass ­Auschwitz kontingent ist auch gegenüber den Kategorien der Kritik der politischen Ökono­mie.« Dass die Krise von 1929 nicht die Revolution gebracht hatte, sondern das Proletariat »zum Teil den rassistischen Ideologien des Faschismus anheim fiel« und im autoritären Staat aufging, veränderte für ihn die Bedeutung von Krisentheorie grundlegend.
Einen Ausweg aus der Sackgasse der anti­autoritären Bewegung suchte Krahl zuletzt in einer Aktualisierung von Klassentheorie, die unmittelbar die Rolle der revoltierenden Studen­ten betraf: »Die Theorie des individuellen Klassenverrats ist der wissenschaftlichen Intelligenz nicht mehr angemessen.« Adorno wie dem SDS hielt er vor, auf eine historisch vergangene Gestalt der Klassengesellschaft fixiert zu sein, während der »Gesamtarbeiter« längst große Teile der Kopfarbeiter umfasse: »Noch so viele spontane Streiks in der BRD, in den Turiner Fiat-Werken und so weiter werden nichts daran ändern, dass das Industrieproletariat (…) ein Moment in der gesamten Klasse ist, aber nicht diese Klasse in ihrer Totalität repräsentiert.« Anstatt die Verflachung der universitären Bildung zur bloßen Ausbildung hilflos zu beklagen, wie es sich Jahr um Jahr in den Studen­tenprotesten beobachten lässt, verstand Krahl sie als Fortschritt und Rückschritt zugleich, insofern sie der »idealistischen Selbst­über­höhung« der Kopfarbeiter entgegenwirke. Diese Bemühungen, den veränderten Charakter geistiger Ar­beit im Spätkapitalismus auf den Begriff zu bringen, wurden nicht mehr abgeschlossen. Ergiebiger als alles, was in den vergangenen Jahren über »immaterielle Arbeit« zusammenfabu­liert wurde, sind sie auch in ihrer fragmentarischen Form allemal.
Dass eine solche Aktualität nicht allem beigemessen werden kann, was Krahl vor mittlerweile 40 Jahren zu Papier brachte, versteht sich von selbst und ist teils objektiven Veränderungen, teils subjektiven Grenzen geschuldet. Die für seine Reflexionen grundlegende Annahme etwa, der Kapitalismus in den Metropolen sei mittels Staatsintervention über ein Stadium hinausgelangt, das für die Lohnabhängigen mit materieller Not und existenzieller Unsicherheit verbunden war, ist durchaus hinfällig geworden.
Während diese Vorstellung seinerzeit jedoch keineswegs aus der Luft gegriffen war, entsprang die mit ihr verbundene Verklärung antikolo­nialer Bewegungen in der Dritten Welt schon da­mals schlichter Unkenntnis. Mit Erstaunen nimmt man zur Kenntnis, dass auch Krahl – der von Rudi Dutschkes deutschnationalen An­wand­lungen weit entfernt war und es für reaktionär erklärte, über einen angeblichen Mangel an »na­tionaler Identität« in Deutschland zu lamentieren – am Nationalismus der ­peripheren Befreiungsbewegungen keinen Anstoß nahm, ihn anders als etwa seine geistesverwandten Zeitgenossen von der Situationis­tischen Internationale nicht materialistisch zu kritisieren verstand. Das Lob auf Che Guevara, Fidel Castro und Ho Tschi Minh, sie hätten den revoltierenden Studenten »eine politische Moral kompromissloser Politik« vorgeführt, gehört selbst noch zu jenem existenzialistisch gefärbten »Vulgärmarcusianismus«, über den Krahl in anderer Hinsicht längst hinaus war. Auf den später um sich greifenden Wahnsinn jedoch, Massenmörder wie Idi Amin und Pol Pot zu unterstützen, wäre er gewiss nicht verfallen. Das blieb Gerd Koenen und seinen Genossen vorbehalten.

Hans-Jürgen Krahl: Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution. Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 2008, 440 Seiten, 25 Euro

Geändert: 15. Dezember 2008