Im Gegensatz zu den europäischen Nachbarn will Deutschland in der Krise sparen

Schwäbischer Sonderweg

200 Milliarden Euro für »grüne Autos« hin oder her – von einer einheitlichen europäischen Wirtschaftspolitik in der Krise kann keine Rede sein. Während die meisten Staaten umfangreiche Konjunkturmaßnahmen in die Wege leiten, wird in Deutschland nach wie vor geknausert.

Die Menge ist wütend, einige werfen Eier und Tomaten auf das Parlamentsgebäude. »Wollt ihr, dass die Chefs der Zentralbank zurücktreten? Wollt ihr, dass die Regierung zurücktritt? Wollt ihr Neuwahlen? Wollt ihr, dass diese Clique verschwin­det?« schreit ein Redner auf dem Platz. Rund 6 000 Isländer demonstrierten kürzlich in der Haupt­stadt Reykjavik – was ungefähr zwei Prozent der Einwohnerschaft der Insel entspricht. Noch nie gab es dort solche massenhaften Proteste, noch nie fühlten sich Isländer in den vergangenen Jahrzehnten so bedroht. Vergangene Woche besetzten aufgebrachte Demonstranten für kurze Zeit sogar die Notenbank.
Die Finanzkrise hat nicht nur auf einen Schlag den jahrelangen Wirtschaftsboom auf der Insel beendet. Seitdem steigen auch die Arbeitslosenzahlen rasant, nehmen die Firmenpleiten zu, überlegen viele Einwohner auszuwandern.

Die Entwicklung auf Island zeigt, was demnächst vielleicht auch in London, Paris oder Berlin geschehen könnte. Noch sind nur die Prognosen düster, während die Konjunktur- und Arbeitslosenzahlen in der Europäischen Union verhältnismäßig stabil erscheinen. Insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel beschwichtigt: Das kommende Jahr werde zwar viele schlechte Nachrichten mit sich bringen, doch die deutsche Wirtschaft sei nach wie vor »gut aufgestellt«.
Entsprechend zurückhaltend wirken ihre Reaktionen auf die sich abzeichnende gewaltige Rezession: Ein so genannter Rettungsschild für die angeschlagenen Banken sowie ein bescheidenes »Konjunkturpaket«.
Mit ihren optimistischen Prognosen steht Merkel allerdings in Europa alleine da. Während sie weitergehende Maßnahmen bislang strikt ablehnt, glauben die anderen EU-Staaten nicht daran, dass ein paar Milliarden zusätzlicher staatlichen Ausgaben ausreichen, um den wirtschaftlichen »Tsunami«, der auf Europa zurolle, aufzuhalten.
Tatsächlich wirken die deutschen Pläne im Vergleich etwa zu dem 800-Milliarden-Programm der US-Regierung fast lächerlich. Und in der Europäischen Union sind sich die Regierungen alles andere als einig, wie sie auf die Krise reagieren sollen.
Der französische Präsident Nicolas Sarkozy kündigt mit markigen Worten staatliche Eingriffe an und gründet einen strategischen Staatsfonds, der dauerhaft kränkelnden Unternehmen finanziell helfen und unerwünschte Käufer abwehren soll. Der britische Premierminister Gordon Brown handelte indes, ohne sich vorab mit dem restlichen Europa überhaupt abzustimmen: Er senkte die Mehrwertsteuer auf der Insel, um den Konsum anzuregen.

Die EU-Kommission wiederum will ein Konjunkturprogramm in Höhe von 200 Milliarden Euro auflegen, um die Folgen der Wirtschaftskrise abzumildern. Unter anderem sollen damit Umwelttechnologien durch eine europäische Initiative für »grüne Autos« gefördert und Sozialabgaben im Niedriglohnsektor reduziert werden. »Wir erleben eine außergewöhnliche Krise und müssen darauf eine außergewöhnliche Antwort geben«, sagte der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso. Das Konjunkturprogramm sei der beste Weg, um die Bürger vor einer schweren Rezession zu schützen.
Von seiner ursprünglichen Empfehlung, die Mehr­wertsteuer zu senken, ist Barroso allerdings schon wieder abgerückt – ohne Unterstützung aus Deutschland hätte dieses Vorhaben sowieso keine Aussicht auf Erfolg gehabt.
Aber selbst das reduzierte EU-Konjunkturprogramm stößt in Berlin auf wenig Gegenliebe. Hierzulande hält man bislang nichts davon, in einen »Wettlauf um Milliarden-Subventionen« zu treten. Stattdessen beschwor Merkel auf dem Par­teitag der CDU vergangene Woche in Stuttgart lieber die Lebensweisheit einer »schwäbischen Haus­frau«, wonach man nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben könne. Steuerentlastungen und weitere Konjunkturprogramme lehnte sie dort entschieden ab.
Seitdem rätselt Europa, warum die deutsche Kanzlerin so vehement die Meinung, mit der sie weitgehend alleine dasteht, verteidigt. Der Deutschland-Korrespondent der Financial ­Times mutmaßte in einem Interview mit der BBC, dass Sparen zur hiesigen Kultur gehöre: Es liege in der deutschen Mentalität, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten jeden Cent zu horten.

Es gibt jedoch auch sehr materielle Gründe, wieso die größte Volkswirtschaft Europas ausgerechnet jetzt versucht, einen Sonderweg ein­zuschla­gen. Im Vergleich zu anderen wichtigen Industrienationen verfügt Deutschland über strukturelle Vorteile. Der Finanzsektor hat eine geringere Bedeutung als etwa in den USA und Großbritannien. Zudem konnte in den vergangenen Jahren die industrielle Produktivität deutlich gesteigert werden – angesichts der maroden Finanz­institute wirkt die deutsche Industrie geradezu vital. Außerdem ist der deutsche Staatshaushalt verhältnismäßig ausgeglichen, während EU-Staaten wie Frankreich, Italien oder Spanien mit großen Defiziten kämpfen und schwächere Ausfuhren vorzuweisen haben.
Beides will Merkel nicht aufs Spiel setzen. Weder soll konkurrierenden Unternehmen durch umfangreiche Subventionen geholfen werden, noch will sie mit Steuersenkungen und enormen Staatsausgaben die mühsam durchgesetzten Maastrichter Kriterien umgehen.
Der Preis für diesen Wettbewerbsvorteil war allerdings sehr hoch. Ohne einen drastischen Verzicht bei den Einkommen hätte es Deutschland nie geschafft, trotz zahlreicher neuer Konkurrenten weiterhin Exportweltmeister zu bleiben. Und ohne die drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer wäre es nicht gelungen, den Haushalt zu sanieren. Beides trug dazu bei, dass trotz des Aufschwungs die Reallöhne nicht stiegen, sondern auf dem Niveau der neunziger Jahre stagnierten. Bei der Lohnentwicklung belegt Deutschland mittlerweile den letzten Platz in Europa, und nach einer aktuellen Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nimmt das Lohngefälle in keiner anderen Industrienation so zu wie in der Bundesrepublik.
So ist es nur konsequent, wenn die Regierung in Berlin angesichts der Krise wieder einmal daran denkt, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu senken. Damit würden die deutschen Unternehmen angeblich wettbewerbsfähiger – was selbst für die Financial Times Deutschland mittlerweile »etwas Kriminelles« hat. »Es geht da­rum, eine globale Depression zu verhindern – und nicht darum, andere fertigzumachen«, kommentierte die Zeitung.
Bislang schätzte die Bundesregierung die Folgen der Wirtschaftkrise anders ein als die meisten europäischen Regierungen. Immerhin prognostizieren einige renommierte Wirtschaftsforscher, dass die Wirtschaft Ende 2009 wieder wachsen wer­de. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat sich sogar auf Mitte des kommenden Jahres festgelegt. Sollte dies der Fall sein, dann würde die deutsche Exportwirtschaft zu den ersten Profiteuren zählen – auf Kosten anderer europäischer Staaten.

Mit der auch von der Bundesregierung oft und gern vielbeschworenen europäischen Harmonie hat diese Strategie nicht viel gemein. Sie zeigt vielmehr, dass in Krisenzeiten nationale Interessen nach wie vor überwiegen – und die Europäische Union zwar über eine integrierte Eurozone, aber nicht über eine gemeinsame Wirtschaftspolitik verfügt.
Mittlerweile wachsen jedoch auch in der Bundesregierung die Zweifel an den eigenen Einschätzungen. Falls die Krise länger und tiefgehen­der ausfällt als bisher angenommen, wäre das deutsche Modell einer exportorientierten Wirtschaft, die auf Kosten des Binnenkonsums funktioniert, gescheitert. Mitt­lerweile spricht vieles für diese Perspektive, weshalb nun auch in der Regierungskoalition hektische Vorschläge für weitere »Konjunkturpakete« die Runde machen.
Sollte die Krise tatsächlich die Ausmaße annehmen, die derzeit viele prophezeien, wird sie allerdings kaum mit Konsumgutscheinen oder einer Steuersenkung aufzuhalten sein. Vielleicht erlebt Kanzlerin Merkel dann ausgerechnet im Wahljahr isländische Verhältnisse in Berlin.