Die politische Lage in Kenia ein Jahr nach den Unruhen

Geteiltes Leid, doppelte Macht

Mehr als 1 100 Menschen wurden in Kenia nach den manipulierten Wahlen vom Dezember 2007 getötet. Die nach den Unruhen gebildete Koalitionsregierung kann sich nur mühsam dazu durchringen, die Verbrechen juristisch aufzuarbeiten.

Es war eine Entscheidung in letzter Minute. Am Mittwoch der vergangenen Woche einigten sich Präsident Mwai Kibaki und Premierminister Raila Odinga auf die Einrichtung eines Tribunals für die strafrechtliche Verfolgung der für die Gewalttaten nach den Wahlen am 27. Dezember 2007 Verantwortlichen. Wenige Stunden später wäre das Ultimatum des kenianischen Juristen Phillip Waki abgelaufen. 60 Tage Zeit hatte er den Polikern nach der Veröffentlichung eines Unter­su­chungs­berichts über die Gewalttaten gegeben, seine Forderung zu erfüllen.
Waki hatte ein wirksames Druckmittel. Bei der Veröffentlichung des Berichts im Oktober überreichte er dem Vermittler Kofi Annan einen versiegelten Briefumschlag, der eine Liste mit den Na­men der für die Gewalt verantwortlichen oder an ihr direkt beteiligten Politiker, Bürokraten, Militärs und Polizeichefs enthielt. Annan sollte den Umschlag an den Internationalen Strafge­richts­hof in Den Haag weiterleiten, falls die Politiker sich weigern, einen Sonderstrafgerichtshof einzurichten, der jeweils zur Hälfte mit kenianischen und ausländischen Richtern besetzt werden soll.
Den offiziellen Angaben zufolge wurden nach den Wahlen 1 133 Menschen ermordet, 405 von ihnen sollen von kenianischen Sicherheitskräften getötet worden sein. Über 300 000 Menschen flo­hen, von denen derzeit noch rund 100 000 in so genannten Transitcamps, meist in der Nähe ihrer ehemaligen Wohnorte, auf bessere Zeiten warten.

Wakis Bericht ist nicht schmeichelhaft für das po­litische und militärische Establishment: Der Macht­erhalt von Politikern durch die vorsätzliche Anwendung von Gewalt sowie die Entscheidung, diese Rechtsverletzungen nicht zu ahnden, führte zu einer Kultur der Straflosigkeit, die­se wiederum zu einer kontinuierlichen Eskalation der Gewalt. Die Erstellung des Berichts war ein erstes konkretes Ergebnis des Kompromisses, den Kofi Annan den beiden Kontrahenten, dem früheren wie derzeitigen Präsidenten Mwai Kibaki und dem Inhaber des neu eingerichteten Premierministeramtes, Raila Odinga, im Februar 2008 abgerungen hatte.
Die Koalition der beiden, nach offensichtlich manipulierten Wahlen, wurde international als ein Kompromiss gewertet, dessen Tragfähigkeit sich erst erweisen muss. Zugleich gilt der Deal als Modell für die politische Beilegung gewaltsamer Konflikte auch in anderen afrikanischen Staaten. Auch deshalb durfte es diesmal nicht, wie schon nach den gewalttätigen Unruhen im Zuge vorheriger Wahlen mit über 1 500 Toten, bei einem Bericht bleiben, dessen Inhalt ohnehin schon jeder erahnen konnte.
Waki forderte auch, die korrupte Wahlkommission mit ihren 575 Mitarbeitern und 22 Wahlvorstehern zu ersetzen. Infolge einer unabhängigen Untersuchung war bekannt geworden, dass die letzte Wahl in Kenia nicht nur eine der teuersten weltweit war, sondern die Mitarbeiter der kenianischen Wahlkommission Steuergelder in Höhe von umgerechnet 193 Millionen Euro veruntreut hatten. Am Mittwoch der vergangenen Woche ver­abschiedete das Parlament ohne Gegenstimme einen zuvor umstrittenen Gesetzentwurf, der die Entlassung der Wahladministratoren vorsieht.

Doch weiterhin misstrauen weite Teile der Bevöl­kerung dem politischen Establishment. Die vereinbarte Änderung der Verfassung, die den Präsidenten nach eigenem Bekunden »wieder ruhig schlafen lässt«, wird nicht von allen akzeptiert. Das Kenya Network of Grassroot Organizations meint, viele hätten die Drahtzieher lieber vor dem Internationalen Strafgerichtshof gesehen, denn der kenianische »Teufelskreis der Straflosigkeit« sei so einfach nicht aufzubrechen. An diesem tiefen Misstrauen haben offensichtlich auch das bereits vom Parlament verabschiedete Gesetz zur Gründung einer »Kommission für Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung« sowie ein Gesetz über »Ethnic and Race Relations« und eines zum Schutz von Zeugen nichts ändern können.
Unmoralisch sei es, wenn der Präsident und seine Regierung, die sich überhaupt erst aufgrund gefälschter Wahlergebnisse in dieser Form konstituierte, nun die eigenen Wahlbetrüger entließe, so das Centre for Research, Education & Development of Rights. Diese Kritik zeigt, wie die Politik des zu Anfang des Jahres so unversöhnlichen Duos Kibaki-Odinga wahrgenommen wird. Die Teilung der Macht ist nicht nur geteiltes Leid, sie zeitigt auch langfristige Folgen. Denn Gesetze, die unter dieser Regierung verabschiedet werden, sind doppelt wirkungsvoll.
Dazu gehört nun das neue Mediengesetz, das Anfang Dezember vom Parlament beschlossen wurde. Es beschneidet die Freiheit der Medien er­heblich und wurde vom Journalistenverband sowie der NGO »Reporter ohne Grenzen« als Unterdrückungsinstrument scharf verurteilt. Das Gesetz erlaubt es dem Informationsministerium, Sendungen zu unterbrechen und Telefonate von Journalisten abzuhören.

Dies ist nicht die einzige regressive Entwicklung. Wichtige Forderungen des Waki-Reports wurden noch nicht erfüllt. Während ökonomische Reformen und Wiederaufbauprogramme schnell auf den Weg gebracht wurden, steht die Landreform noch aus. Enteignungen, Vertreibungen, die ungleiche Behandlung der Geschlechter und Bevölkerungsgruppen bei Landrechtsfragen, politische Willkür bei der Vergabe von Besitztiteln und das koloniale Erbe einer ungleichen Landverteilung führen dazu, dass viele Landbewohner keine Lebensgrundlage haben. Doch eine Reform gilt als problematisch, weil sie zu neuen Unruhen füh­ren könnte.
Ein Kapitel im Waki-Bericht geht explizit auf die spezifisch gegen Frauen gerichtete Gewalt ein. Politische Folgen hatte dies bislang nicht. Auch eine Landreform gehört zu den von Frauenrechtlerinnen geforderten Gesetzesänderungen. Sie ist unverzichtbar, um in Zukunft zumindest ju­ris­tisch mehr Sicherheiten für Frauen garantieren zu können. Nicht nur geschiedene Frauen, sondern auch Witwen sind häufig die ersten Opfer von Gewalt oder Vertreibung. Auch ihren Kindern wird, wenn die Eltern nicht der gleichen Bevölkerungsgruppe angehörten, der Zugang zu Land oft verwehrt.
Die einzige bislang beschlossene Maßnahme ist ein Mikrokreditsystem für Frauen. Muthoni Wanyeki, Geschäftsführerin der Kenianischen Men­schenrechtskommission, gibt sich damit nicht zufrieden. Mikrokredite seien in keiner Weise aus­reichend für eine reale Umverteilung, sie könnten vereinzelt Leid lindern, aber die Ursachen der Armut und Diskriminierung blieben bestehen.
In Nairobi tragen Angehörige der sozialen Bewegungen regelmäßig ihren Unmut auf die Straße. Kurz vor dem Nationalfeiertag am 12. Dezember hatten sie zum Streik aufgerufen. Von denen, die gegen das neue Mediengesetz, gegen Steuervergünstigungen für Abgeordnete, die hohen Lebenshaltungskosten und für einen wirk­samen Zeugenschutz demonstrierten, wurden 55 Personen festgenommen. Die Machthaber sind vollauf damit beschäftigt, Pfründe aufzuteilen und Verhältnisse zu etablieren, die ihnen einen aus internationaler Perspektive legitimen Ablauf der kommenden Wahlen im Jahre 2012 garantieren. Die existenziellen Sorgen der Mehrheit der Bevölkerung jedoch und die Angst vor einer Wiederholung gewalttätiger Exzesse werden von den Verfassungsreformen nicht beseitigt.