Was ist eigentlich »Deutschsein«?

Wollt ihr den normalen Krieg?

Das Jahr 2009 wird schwarz-rot-gold. Die Deutschen feiern Geburtstag und rücken im Zeichen der Krise zusammen. Aber was ist das eigentlich: »Deutschsein«? Und wie kam es, dass Deutschland den Krieg doch gewann?
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2009 ist das Jahr der Astronomie, das Calvin- und Darwin-Jahr, das Jahr des Bergahorns und das des Fenchels, des alpinen Steinschafs, der Dreiecks­spinne, des Eisvogels, des Igels, des Aals und des Gorillas, das Jahr der Brunnenschnecke und der Gemeinen Blutzikade – und es ist das ultimative Deutschland-Jahr. Meist beziehen sich Jah­reswidmungen auf runde Jubiläen, im Fall der Tiere und Pflanzen soll das Augenmerk hingegen vornehmlich auf Arten gelenkt werden, die vom Aussterben bedroht sind. Wäre bei den Deutschen letzteres der Fall, ach, gerne würde man ein Jahr voller Feierlichkeiten begehen, beglückt ließe man Sektkorken knallen, schösse Feuerwerk in den Himmel. Doch auch, wenn man bei einer Wanderung durch das Mecklenburgische oder Märkische diesen Eindruck gewinnen könnte, nein, die Deutschen werden so schnell wohl nicht aussterben, da sollten wir uns keine falschen Hoffnungen machen. Und so liegt es doch ausschließlich an den Jahrestagen, die in diesem Jahr bevorstehen, dass es ein sehr schwarz-rot-goldenes 2009 werden wird.

Vor 15 Jahren zogen die alliierten Truppen ab, Deutschland war nicht mehr »die Bundesrepublik«, und schon gar nicht die »BRD«, und auch nicht mehr ein von Besatzungsmächten drangsalierter Kriegsverlierer – Verlierer eines Krieges, den Deutschland selbst vor ebenfalls runden 70 Jahren begonnen hatte. Nun war Deutschland wieder vollkommen souverän, endlich, endlich nach all den schmachvollen Nachkriegsjahren hatten die Deutschen den Krieg doch noch gewon­nen. Kaum waren die letzten Rotarmisten und GIs aus dem deutschen Haus, nannte sich die Bun­desbahn »Deutsche Bahn«, und ein paar Monate später stand auf den Briefmarken nicht mehr »Deutsche Bundespost«, sondern »Deutschland«. Vor zehn Jahren waren deutsche Soldaten dann erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder zu ei­nem Kriegseinsatz im Ausland unterwegs. In einer Gegend, die sie bzw. ihre Väter noch gut kann­ten. Im selben Jahr zog die Regierung von Bonn in die alte Reichshauptstadt Berlin, ebenso das Par­lament – zurück in das alte Reichstagsgebäude. Deutschland war wieder zuhause, und sogleich leg­te man die Fußmatte vor die Tür, auf der »Trau­tes Heim, Glück allein« zu lesen war, statt »Welcome«.
Das Deutschland-Jahr 2009 wurde bereits eingeläutet. »Sagen wir aus ganzem Herzen Ja zu Deutschland«, verlangte Bundespräsident Horst Köhler bei der Eröffnung der Ausstellung »Flagge zeigen?« im Dezember in Bonn (Jungle World 50/08). Und der Spiegel schwelgte in Germanenmythen von der »Geburt der Deutschen – Als die Germanen das Römische Reich bezwangen«. 2009 jährt sich zum (vermuteten) 2000. Mal die Schlacht im Teutoburger Wald, zum 90. Mal die Verabschiedung der Weimarer Verfassung, zum 60. Mal die Staatsgründung der Bundesrepublik und auch der DDR und zum 20. Mal der Mauerfall. Dies werden die Anlässe sein, deretwegen man uns während des ganzen Jahres mit deutscher Soße übergießen und die Welt einladen oder auch nötigen wird mitzufeiern.
Es begann alles mit dem Mauerfall. Vorher waren Nationalhymne und Fahne im Westen fast nur in Regierungsgebäuden en vogue. Doch schon in der Nacht zum 10. November 1989 sahen wir die ersten Fahnenmeere auf dem Kurfürstendamm in Berlin. Es sah zunächst nach einer kurzen Sturmflut aus, doch stetig stieg der Pegel. Bei der Fußball-WM 2006 hatte die schwarz-rot-goldene Welle dann alle erreicht. Sogar Kreuzberger Alternativkneipen wurden erfasst. Man war »ganz unverkrampft« stolz, Deutscher zu sein, wie es die NPD zuvor Jahrzehnte lang vergebens gefordert hatte. Jetzt war es möglich, denn Jürgen Klinsmann und seine Mannen waren jung, modern und sahen überhaupt nicht wie Hitler oder Kaiser Wilhelm aus. Und die Ossis verstanden sowieso nicht, weshalb man als Deutscher nicht auch »Patriot« sein dürfe.

Doch was ist dieses Deutschsein überhaupt? Worauf, außer auf eine regelmäßig durch wundersames Losglück begünstigte Fußballmannschaft, können die Deutschen stolz sein? Zum Beispiel darauf, fast überall in der Welt gemocht zu werden, trotz ihrer bestialischen Geschichte. Doch in Zeiten, in denen der größte Teil der Weltbevölkerung am liebsten einen Schuh auf den US-Präsidenten werfen würde, liegen die Deutschen im Trend: Die Deutschen, das waren doch die, die gegen die Juden waren, und dann haben ihnen die Angloamerikaner die Häuser über dem Kopf weggebombt. Deutschland als ideeller Gesamt­an­tiimperialist ist quasi der irakische Widerstand oder die Hamas Europas, mit der man als ordent­licher Links- oder Rechtsnationalist irgendwie sympathisiert.
Die deutsche »Identität« ist voll und ganz eine antiimperialistische. Die deutsche Heldengeschichte besteht im Wesentlichen aus dem Abwehr­kampf der Germanen gegen die aus Italien vorrückende Zivilisation, später im Abwehrkampf des absolutistischen Preußen gegen die aus Frankreich einmarschierende Aufklärung. So wie der Spie­gel die »Geburt der Deutschen« im Sieg der Germanen über die Römer ausmachte, war in der Welt zum Jahresbeginn zu lesen, dass sich vor 200 Jahren »im Widerstand gegen die Franzosen« »ein deutsches Nationalgefühl (formte), das sich auf eine gemeinsame Sprache und Kultur gründete«. Zwei Weltkriege zettelten die derart nationalgeformten Deutschen schließlich an, beide ver­loren sie, die Demokratie mussten die alliierten Besatzer ihnen 1945 mit aller Gewalt aufzwingen.
Gut, zugegeben, das ist stark verkürzt. Aber es ist durchaus vorstellbar, dass sich das Ge­schichts­bild eines deutschen Schülers oder eines durchschnittlichen Passanten in der Fußgängerzone aus der Reihe »Germanen, Preußen, Grundgesetz 1949, Mauerfall« zusammensetzt. Und bestaunt man die Denkmäler des Landes, dann sind die meisten tatsächlich dem heroischen Kampf gegen die verdammten Römer und vor allem gegen die verdammten Franzosen gewidmet. Oder sie beklagen die deutschen Opfer der bei­den Weltkriege.
Der Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte hat sich in den vergangenen Jahrzehnten geändert. Wurde die Nazi-Vergangenheit der Gesellschaft und zahlreicher ihrer Funktionsträger zunächst tabuisiert und widerwillig als Makel akzeptiert, änderte sich dies spätestens mit dem deutschen Kriegseinsatz vor zehn Jahren unter Rot-Grün. Aus dem Makel wurde ein moralischer Mehrwert.
Ausgerechnet mit den Lehren aus der Vergangenheit wurde der deutsche Waffengang begründet. Ganz so absurd, wie in der antideutschen Kritik oft dargestellt, war diese Schlussfolgerung jedoch nicht. Dass man bei einem Genozid nicht zuschauen darf, und dass er notfalls auch mit mi­litärischen Mitteln beendet werden muss, ist durchaus eine richtige Lehre aus dem Holocaust, und dass ausgerechnet Deutschland angesichts eines stattfindenden Genozids ihm zuzuschauen habe, kann niemand ernsthaft als Schlussfolgerung fordern. Der Jugoslawien-Krieg allerdings dien­te etwas anderem: Es war die Rückkehr Deutschlands auf die Bühne der so genannten Welt­politik. Die deutsche Teilnahme an dem Nato-Krieg zeigte, wie es die Welt in einem Überblick der bevorstehenden Jahrestage geschickt formulierte, »dass die Bundesrepublik eine neue Rolle in der Welt zu spielen bereit war«.

Während der WM 2006 wurde – auch in der Jungle World – heftig darüber diskutiert, ob der »neue«, geläuterte, nicht mehr explizit völkische Nationa­lismus bzw. Patriotismus der Deutschen ungefährlich sei. Letztlich geht es dabei um die Frage, ob Deutschland sein kann, wonach sich die meis­ten Deutschen so sehr sehnen: ein »ganz normales Land«. Bert Brechts Kinderhymne wurde zur heimlichen Hymne des »unverkrampften Nationalismus«: »Und nicht über und nicht unter/andern Völkern wolln wir sein (…) Und weil wir dies Land verbessern/lieben und beschirmen wir’s./Und das liebste mag’s uns scheinen/so wie andern Völkern ihrs.«
Kinderlieder sind von der Natur der Sache her naiv. Naivität ist nicht grundsätzlich dasselbe wie Dummheit. Und in der Tat: Im Grunde wäre es tatsächlich ein großer Fortschritt, wäre Deutsch­land ein »ganz normales Land«, das allerdings ist nur unter Ignoranz der einzigartigen mörderischen Geschichte möglich. Und schon bei der Frage, was denn normal sei, wird es heikel, war doch ausgerechnet der Kriegseinsatz 1999 das erste Zeichen für die »Normalisierung« Deutschlands. Und dass es möglich ist, wie es jetzt in den Vorwürfen an Angela Merkel wegen ihrer Äu­ßerungen zum Gaza-Krieg von Politikern diverser Parteien geäußert wurde, als Konsequenz aus der deutschen Geschichte eine »neutrale Vermittlerrolle«, eine »Neutralität« gegenüber Juden zu fordern, zeigt, welch perverse »Normalisierung« sich da vollzieht. Diese vermeintliche Normalisierung ist vor allem die Rückkehr zur alten antiimperialistischen Gesinnung eines Arminius und eines Friedrich Wilhelm III.
Nach dem von Deutschland begonnenen Ersten Weltkrieg sahen sich die Deutschen durch den von den Siegermächten diktierten »Schandvertrag von Versailles« (Hitler) als gedemütigte Opfer. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg beklagten nicht nur Rechtsextreme, sondern auch Linke in Westdeutschland ihre »Kolonisierung« durch die USA, Antikommunisten im Westen prangerten die sowjetische Okkupation Ostdeutschlands an, und nach dem Mauerfall schwadronierten dann Ostdeutsche vom westdeutschen »Kolonialismus«, wenn sie abends vom Ausländeranzünden nach Hause kamen. Deutsche zeigen gern auf sich, denn drei Finger weisen dabei auf die anderen. Sie sehen sich gerne als gallisches Dorf, obwohl sie jedes Mal wieder selbst die Mordmaschine sind.
Und daher sind die nationale Welle und die nationale Versöhnung zwischen den politischen Fraktionen, die in diesem Jahr drohen, beängstigend – gerade im Zeichen der Wirtschaftskrise. Angela Merkels Neujahrsansprache gab uns einen kleinen Vorgeschmack auf das völkische Zusammenrücken, wie es sich am Horizont des neuen Jahres abzeichnet: »In der Krise zeigt sich der Gemeinsinn. Dieser Gemeinsinn kann uns jetzt überall voranbringen. (…) Wir Deutschen haben schon ganz andere Herausforderungen gemeistert, im kommenden Jahr werden wir uns daran erinnern.« Das klingt wie eine Drohung. Es war sicher nicht so gemeint. Dennoch kann es nicht schaden, es genau so zu verstehen.