Zum 120. Geburtstag von Siegfried Kracauer

Der Gesellschaftsbiograf

Zum 120. Geburtstag von Siegfried Kracauer.

Die Errettung der äußeren Wirklich­keit« lautet der Untertitel von Siegfried Kracauers 1960 erschienenem, monumentalen Hauptwerk »Theorie des Films«. »Die Er­rettung der äußeren Wirklichkeit« – das ist zugleich Kracauers Programm einer kritischen Theorie in nuce; ein Slogan, der ohne weiteres als Forderung zu lesen ist und der gerade heute, am Ende des Medienzeitalters, dessen Entwicklung Kracauer als Zeitgenosse kri­tisch kommentierte, an Aktualität nichts eingebüßt hat. Gerade wo wir uns nur zu leichtfertig der Vorstellung anheim geben, dass das, was wir Wirklichkeit nennen und was wir über die Wirklichkeit wissen, ein Resultat medialer Informationstechnologie ist.
Was Kracauer mit diesem Slogan zudem verhandelt, ist ernst zu nehmen: Dass es um die Errettung der äußeren Wirklichkeit geht, heißt zugleich, dass sie bedroht ist, also uns gewissermaßen abhanden kommt oder verschwindet, wie es ja viele postmoderne Theorien nach Kracauer hinlänglich diagnostiziert haben – allen voran Jean Baudrillard mit seinem Simulationspostulat. Doch Kracauer ist in einem ganz we­sentlichen Punkt kein Postmoderner, auch kein Vordenker der Postmoderne. Gerade mit sei­nem Begriff der Wirklichkeit und seinem Programm der Rettung des Realen erweist er sich als kritischer Theoretiker eines historischen Materialismus, von denen es im 20. Jahrhundert nicht viele gegeben hat; und es kommt nicht von ungefähr, dass Kracauer zu fast allen von ih­nen ein mindestens kollegiales, meistens freund­schaftliches Verhältnis unterhielt. So mit Ernst Bloch, Walter Benjamin, Theodor W. ­Ador­no oder – beziehungsweise vor allem – Leo Löwenthal.
Kracauer setzt bei der Wirklichkeit selbst an: Sie ist kein Block, kein Ding, kein fester Stoff; sondern ein soziales Verhältnis, eine konkrete Situation. Gleichwohl ist die Wirklichkeit nicht einfach »da«, sondern sie ist »eine Konstruktion«. Und bereits dieses Konstruieren darf man bei Kracauer materialistisch-konkret als produktive Praxis, im wörtlichen Sinne als Bauen verstehen – immerhin studierte Kracauer neben Philosophie und Soziologie auch Architektur, promovierte 1914 zum Doktor der Ingenieurswissenschaften und arbeitete bis 1920 als Architekt. Die Wirklichkeit als Konstruktion zu be­trachten, hat zugleich etwas Soziologisches, das Kracauer zunächst noch ganz in der Tradition Georg Simmels denkt, nämlich als Frage nach dem »Weltmannigfaltigen«, nämlich nach der »Struktur aller möglichen menschlichen Verbindungen« en detail, das heißt: mit einem Blick auf das Alltagsleben.
Schließlich ist für diesen soziologischen Blick in die Architektur der menschlichen Lebensverhältnisse der Blick selbst entscheidend. In sei­nen Feuilletonstudien, die er 1930 unter dem Titel »Die Angestellten« veröffentlicht, erläutert Kracauer: »Ergibt sich diese Wirklichkeit der üblichen Reportage? … Hundert Berichte aus einer Fabrik lassen sich nicht zur Wirklichkeit der Fabrik addieren, sondern bleiben bis in alle Ewigkeit hundert Fabrikansichten. Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiss muss das Leben beobachtet werden, damit sie entstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage fotografiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.«
Soziologie ist Kracauer nur möglich als Journalist; und als Journalist beobachtet er mit einer kritischen Genauigkeit, die sonst nur dem Detektiv zueigen ist. Nicht von ungefähr widmet Kracauer sich 1925 in einem »philosophischen Traktat« dem Detektiv-Roman. Was ihn interessiert, ist einmal mehr das Verhältnis zur Wirklichkeit. Im Detektiv-Roman finden sich konstruktive Zugänge zu einer Wirklichkeit, die dem gemeinen Leben längst verstellt sind – obwohl diese Wirklichkeit nichts anderes als ein exaktes Panorama des gemeinen Lebens liefert.
Es ist übrigens keineswegs arbiträr, dass Kracauer ausgerechnet diesen Traktat dem gerade 22jährigen Adorno widmet. Seit 1918 verbindet die beiden eine enge Freundschaft. Kracauer wird der philosophische Lehrer Adornos, liest mit ihm Kant. Vorgesehen war zunächst, der Widmung ein langes Baudelaire-Zitat beizugeben: »Die Welt geht ihrem Untergang entgegen« wäre dann der erste Satz gewesen.
Kommen wir zu Kracauers schon in den zwan­ziger Jahren nachgerade euphorischer Begeisterung für den Film. Kracauer wird am 8. Februar 1889 in eine Welt hineingeboren, die im Auseinanderfallen begriffen ist, die sich zunehmend fragmentiert. In diesen Jahren verändert sich durch Kino, Röntgenstrahlen, Telegrafie, aber auch Psychoanalyse und künstlerische Avantgarde eben das, was allgemein als Wirklichkeit bezeichnet wird. Nunmehr ergeben sich in unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Leben nicht bloß unterschiedliche Ansichten derselben Wirklichkeit, sondern es sind gänzlich entge­gengesetzte Realitäten, die derart erscheinen. Wir kennen das heute als Selbstverständlichkeit, wenn wir etwa meinen, das Fernsehen zeige uns die Wirklichkeit »da draußen«, die mit uns und dem Fernseher selbst scheinbar kaum etwas zu tun hat.
Welche Bedeutung dabei dem Film zukommt, hat Kracauer nicht nur in unzähligen Filmkritiken beschrieben, sondern auch an der gesellschaftlichen Funktion des Kinos und seines Publikums gezeigt, exemplarisch etwa in dem Essay »Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino«, den Kracauer 1928 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte. Bemerkenswert ist im übrigen, inwiefern Kracauer hier nicht nur die Grundlagen seiner Filmsoziologie entfaltet, sondern als einer der ersten am Kino materialistische Ideologiekritik sachlich-konkret aktualisiert.
So zeigen Filme die Gesellschaft, wie eben die­se Gesellschaft sich selbst zu sehen wünscht – Kracauer spricht von Filmen als »Tagträumen der Gesellschaft« und meint das durchaus psychoanalytisch. Im Film kämen die verdrängten, unterdrückten Wünsche der Gesellschaft zum Ausdruck, beziehungsweise würden sie – wie im Traum – ersatzweise erfüllt. Genau das produziere »Wirklichkeit«, die so auch in der Ide­ologie – also als notwendig falsches Bewusstsein – manifest werde. Das heißt aber auch, dass die im Film verbreiteten Bilder von Realität keineswegs ausgeheckte, kalkulierte Manipulationen oder Betrug seien, mit denen dem Publikum krude etwas vorgelogen werde. Tatsächlich spiegle die filmische Wirklichkeit die »äußere« beziehungsweise »physikalische Wirklichkeit« ideologisch wie in der Camera obscura, nämlich auf den Kopf gestellt. Die Filmwirklichkeit mag noch so absurd, dumm oder verrückt sein – sie erscheine immer noch wahrscheinlicher und in diesem Sinne »realer« als die Bilder der Gesellschaft, die entstehen, wenn die Kamera »einfach nur draufhält«. Man kann sagen, dass die Wirklichkeit des Kinos genauso wirklich oder unwirklich ist wie die des Traums – denn würden im Traum die zur Bewältigung anstehen­den Probleme eins zu eins wiedergegeben und verarbeitet werden, wäre das Träumen nicht nur überflüssig, sondern unmöglich. Nicht zuletzt korrespondiert diese Konstruktion der Wirklichkeit mit unseren Bedürfnissen als Publikum: Zerstreuung und Ablenkung sind dem reinen Er­kenntnisinteresse stets übergeordnet.
Inwieweit Kracauer mit seiner Theorie des Films in die historische Wirklichkeit seiner Zeit selbst einzugreifen vermochte, hat er 1947 mit seinem heute wohl bekanntesten Buch »From Caligari to Hitler« gezeigt. Kracauer gelingt hier für das frühe 20. Jahrhundert und den Film, was er 1937 mit seinem Essaybuch »Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit« für das Frank­reich des 19. Jahrhunderts und die Operette zeigte: dass die Schichten und Sphären der Wirklichkeit nicht einfach die Bühne des sozialen Geschehens sind, sondern in der konkreten Praxis, im Alltagsleben, in der Vielfalt und Dynamik menschlicher Beziehungen immer wieder als »Wirklichkeit« konstruiert werden.
Siegfried Kracauer stirbt 77jährig am 26. November 1966 in New York an einer Lungenentzündung. »Geschichte – vor den letzten Dingen« ist sein letztes großes, aber schließlich un­vollendet gebliebenes Werk. Bis heute wird es als zu ominös eingeschätzt, um als philosophisches Hauptwerk durchzugehen.