Die automatische Überwachung aller Internet- Zugänge könnte in Europa bald Realität sein

Wenn der Provider dreimal klingelt

Der EU-Abgeordnete Manuel Medina Ortega fordert eine automatische Überwachung aller europäischen Internet-Zugänge. Der Rechtsausschuss des Europa-Parlaments hat den »Medina-Report« bereits befürwortet. Am 12. März stimmen die Abgeordneten darüber ab.

Three strikes and you’re out! Nach diesem Grundsatz werden Straftäter in 25 US-Staaten nach ihrer dritten Verurteilung lebenslang eingesperrt. Ebenso könnten Nutzer des Internets in der Europäischen Union künftig ganz ohne Gerichtsprozess vom virtuellen Leben ausgeschlossen werden, wenn sie drei urheberrechtlich geschützte Lieder heruntergeladen haben. Geht es nach dem Europa-Abgeordneten Manuel Medina Ortega, soll eine automatische Überwachung aller europäischen Internet-Zugänge dafür sorgen, dass niemand ungestraft davonkommt.
Mit dem als »Medina-Report« bezeichneten Dokument geht der Kampf in die nächste Runde, der seit der Eröffnung der Musiktauschbörse Napster 1998 tobt. Er dreht sich um die Kontrolle des Internets und die Anwendung nationalstaatlicher Gesetze wie beispielsweise des Urheberrechts. Nach dem Willen der Verfasser dient der Medina-Report als Richtlinie zur »Harmonisierung« der entsprechenden Gesetze in den EU-Staaten.

Seit das Internet als Massenmedium etabliert ist, gibt es zwei gegensätzliche juristische Standpunkte, was den Umgang mit dem Web betrifft. Die Traditionalisten sehen in der transnationalen Struktur des Internets ein technisches Problem. Sie fordern Regularien und Methoden, um illegale Inhalte zu sperren und strafrechtlich zu verfolgen; zur Definition von Rechtmäßigkeit ziehen sie gewöhnlich die Gesetzgebung ihres Herkunftslandes heran. Die Gegenseite befürwortet eine Anpassung der Rechtsprechung an die Gegebenheiten des Internets.
Oft steht in diesen Debatten das Urheberrecht im Mittelpunkt, weil sich hier der Gesetzesverstoß zu einem Breitensport entwickelt hat, dem die Strafverfolgung nicht mehr beikommt. Gleichzeitig übt die Unterhaltungsindustrie großen Druck aus, weil sie ihre angeblichen Verluste durch illegale Kopien in Milliardenhöhe angibt. Bei anderen von Regulierungsbefürwortern angezeigten Missständen wie Pornographie oder rassistischer Propaganda fehlen dagegen eine finanzstarke Lobby und eine internationale Strategie, so dass es oft bei kurzlebigen Debatten und Aktionismus auf nationaler Ebene bleibt.
Die Verfasser des Medina-Reports haben aus den Fehlern der US-amerikanischen Medienindustrie gelernt. Deren Ruf hat in den vergangenen Jahren schwer gelitten, weil sie von »Internet-Piraten« horrenden Schadensersatz in Höhe von Zehntausenden US-Dollar forderte. Die scheinbar willkürlich erhobenen Klagen trafen auch offensichtlich Unschuldige, die nicht mal einen Computer besaßen. Selbst Minderjährige wurden durch Prozesskosten in kaum jemals zu tilgende Schulden gestürzt, obwohl ihnen lediglich einzelne illegale Downloads nachgewiesen werden konnten.
Zum einen sorgte dieses Vorgehen für große Empörung, zum anderen ließen sich die Tauschbörsen und Filesharer von den drakonischen Maßnahmen nicht abschrecken. Deshalb wollen sich die Vertreter der Unterhaltungsindustrie in den USA und der EU nun mit den Internet-Anbietern zusammentun, um den Zugang zu illegalen Inhalten zu sperren. Der Medina-Report soll diese Strategie in den EU-Staaten gesetzlich festschreiben.
Zunächst wird in der Richtlinie der Einsatz von Technologien vorgeschlagen, die eine automatische Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Inhalten ermöglichen. Wie das funktionieren soll, bleibt jedoch unklar. Zwar können die Produzenten von ihnen veräußerte Musik- und Filmdateien digital signieren und als legal deklarieren, doch so genannte Raubkopierer würden ihre Dateien kaum analog als illegale Inhalte kennzeichnen. Es bliebe also nur, jede nicht zertifizierte Datei als illegal zu betrachten. Das beträfe den größten Teil der Inhalte im Internet, so dass dort nur noch mit offizieller Genehmigung problemlos Dienste angeboten werden könnten.

Die Verfasser des Medina-Reports scheinen ohnehin alle Seiten jenseits der virtuellen Shopping-Meilen für kriminell zu halten. So nennen sie »The Pirate Bay«, eine der populärsten Seiten im Netz, kurzerhand als Beispiel für ein illegales Web-Angebot, obwohl der Prozess gegen die Betreiber erst am Montag in Schweden begann. Filesharing-Techniken werden ebenfalls pauschal verurteilt, obwohl sie beispielsweise auch zur Verbreitung von freier Software genutzt werden.
Die europäischen Internet-Anbieter sollen nach Medinas Vorstellung nun Filter installieren, die den Datenverkehr ihrer Kunden überwachen und vermeintlich illegale Übertragungen verhindern. Die EU-Staaten müssten also Gesetze, die den Providern das Belauschen ihrer Kunden verbieten, durch solche ersetzen, die eine Filterung vorschreiben. Was legal wäre, könnten sie dann selbst definieren.
Doch auch bei vollständiger Überwachung bleibt die Strafverfolgung aller Verstöße gegen das Urheberrecht angesichts ihrer Vielzahl unmöglich. Deshalb sollen Rechteinhaber oder ihre Interessen­vertreter, ganz ohne offizielle Anzeige vom Internet-Anbieter, die Namen von so genannten Piraten erhalten, um finanzielle Forderungen direkt an sie stellen zu können; dank der im vergangenen Jahr eingeführten Vorratsdatenspeicherung lassen sich Anschlussinhaber noch nach Monaten identifizieren. Nach Medinas Vorstellung zieht außerdem jeder Verstoß eine Verwarnung nach sich. Erweist sich ein Kunde als unbelehrbar, sperrt der Anbieter nach dem dritten Mal seinen Anschluss: Three strikes and you’re out!

In Europa stößt das Three-Strikes-Prinzip auf unterschiedliche Resonanz. Frankreich hat ein entsprechendes Gesetz bereits verabschiedet. In Irland hat sich der größte Internet-Provider Eirecom zu Ausschlussmaßnahmen verpflichtet, nachdem ihn die vier größten Medienproduzenten EMI, Sony BMG, Universal Music und Warner Music wegen Beihilfe zu Urheberrechtsverletzungen verklagt hatten. Die deutsche Justizministerin Brigitte Zypries und der britische Minister für Geistiges Eigentum, David Lemmy, sprechen sich gegen eine Ausschlussregelung aus. Der britische Kommunikationsminister Stephen Carter möchte allerdings dennoch Internet-Filter und ein darauf basierendes Verwarnungssystem einrichten.
Jérémie Zimmermann von der Bürgerrechtsgruppe »La Quadrature du Net« kommentiert die Vorlage so: »Der Medina-Report bedient ausschließlich die Interessen der Unterhaltungs­industrie und bringt der Kultur, den Künstlern und ihrem Publikum nichts.«
Dem Europa-Parlament lag das Three-Strikes-Prinzip im vergangenen November zusammen mit anderen Gesetzen zur Telekommunikation schon einmal zur Abstimmung vor. Damals sprach es sich mit 90prozentiger Mehrheit klar dagegen aus. Dieses Mal gehen die Befürworter jedoch geschickter vor. Zu den Verfassern des Medina-Reports gehören neben dem sozialdemokratischen Namensgeber auch Janelly Fourtou von der liberalen »Avenir Démocrate« und Jacques Toubon von der konservativen UMP, womit die größten Fraktionen von Anfang an beteiligt waren. Zudem müssen die Europa-Parlamentarier den vorliegenden Entwurf am 12. März entweder als ganzen annehmen oder ablehnen, denn Änderungsanträge sind nicht zugelassen.
Offenbar haben die Ordnungspolitiker inzwischen verstanden, dass sie missliebige Server nicht weltweit stilllegen können. Deshalb nehmen sie sich nun die Zugangsknoten vor, wie es auch China erfolgreich praktiziert. Technisch versierte Nutzer umgehen solche Netzsperren zwar mit wenig Mühe, doch der Mehrheit will man mit der Doppelstrategie aus Einschüchterung und technischen Hindernissen beikommen. Setzt sich das Three-Strikes-Prinzip durch, werden sich die meisten Europäer spätestens nach der zweiten Verwarnung überlegen, ob sie ihr digitales Leben aufs Spiel setzen oder von Seiten wie »The Pirate Bay« doch lieber Abstand halten.