Soziale Proteste in Frankreich

Lockruf der Karibik

Mit Massendemonstrationen wurde in Frankreich gegen die Folgen der Krise protestiert. Während die Führung der gemäßigten Gewerkschaften Arbeitskämpfe vermeiden will, sehen Linke den Generalstreik auf den Antillen als Vorbild.

Soll man sich als Gewerkschafter nun über die Unnachgiebigkeit Laurence Parisots freuen? Die Präsidentin des Unternehmerverbands Medef hat nach Auffassung einiger Gewerkschaftsvorsit­zender, etwa François Chérèques von der CFDT oder Bernard Thibaults von der CGT, dazu beigetragen, dass die jüngsten Protestdemonstrationen ein durchschlagender Erfolg wurden.
Parisot hält nicht viel von sozialer Sicherheit: »Das Leben, die Gesundheit und sogar die Liebe sind prekär. Warum sollte die Arbeit sich diesem Gesetz entziehen?« Ihre arroganten Reaktionen auf den ersten Protesttag und ihre jüngste Warnung, dass Demonstrationen »Illusionen und Demagogie« schürten, die wirtschaftlich »teuer bezahlt« werden müssten, könnten manch einen Unentschlossenen auf die Straße getrieben haben. Über drei Millionen Menschen protestierten nach Angaben der Veranstalter am Donnerstag voriger Woche dagegen, dass die Regierung, so die gewerkschaftliche Kritik, die Kosten der Krise des Kapitals auf die Lohnabhängigen abwälzt. Die Polizei spricht von 1,2 Millionen Teilnehmern.

Demonstrationen dieses Ausmaßes gab es zuletzt bei den Protesten gegen die Abschaffung des Kündigungsschutzes im März 2006. Damals wurde eine so hohe Beteiligung jedoch erst nach mehrwöchigen Aufrufen zu Protesten mit zahlreichen Aktions- und Demonstrationstagen erreicht. Derzeit geht alles viel schneller, obwohl im Gegensatz zu den Protesten des Jahres 2006 auf den ersten Blick ein einheitliches Ziel fehlt. Damals waren sich alle darüber einig, dass der Gesetzentwurf zur Abschaffung des Kündigungsschut­zes vom Tisch müsse. Derzeit sind die Forderungen heterogener. »Die Krise« ist abstrakter, und ihre Auswirkungen sind mannigfaltig. Häufig nutzen die Unternehmer die Situation, um die Löh­ne mit Zustimmung der um ihren Arbeitsplatz bangenden Vertrauensleute oder Beschäftigten zu senken. Anderswo werden Beschäftigte entlassen und die Produktion wird verlagert.
In einer von zwei Fabriken des Reifenherstellers Goodyear-Dunlop konnte die Leitung eine Verlängerung der Arbeitszeit durchsetzen, in der zwei­ten, wo dies nicht gelang, drohen nun 1 000 Entlassungen. Gewerkschafter sprechen von einer »Bestrafung der Beschäftigten«. Auch weit reichende Zugeständnisse genügen nicht immer. So stimmten die Beschäftigten des Autozulieferers Continental in Clairoix im September 2007 einer Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit um vier unbezahlte Stunden zu. Dennoch beschloss das Management kürzlich, die Firma zu schließen und 1 120 Beschäftigte zu entlassen, um andernorts noch billiger zu produzieren. Mitte März wurde Fabrikdirektor Louis Forzy von den Beschäf­tigten mit rohen Eiern beworfen, der Generaldirektor von Sony Frankreich wurde eine Nacht lang von aufgebrachten Lohnabhängigen festgehalten. »Die Radikalisierung, letzte Hoffnung für Beschäftigte in Not«, resümierte die linksliberale Tageszeitung Libération in der vergangenen Woche.
Die Gewerkschaftsführungen scheinen die empörten Reaktionen der Lohnabhängigen in den Betrieben zum Teil eher zu fürchten. Der Vorsitzende des Verbands der Angestelltengewerkschaften CFE-CGC, Bernard Van Craeynest, sagte, es sei gut, »so viele Leute wie möglich auf die Straße zu bringen, um harte Konflikte zu vermeiden«. Francois Chérèque, Generalsekretär des sozialdemokratischen Dachverbands CFDT, ist jedoch skeptisch, ob das gelingen wird: »Auch wenn wir eine Demonstration pro Woche organisieren, wird das schwere Probleme in den Betrieben nicht verhindern.«

Die Führung der gemäßigten Gewerkschaften scheint ein Modell zu präferieren, bei dem gelegentliche Aktionstage Regierung und Unternehmer zu Verhandlungen ermuntern, in den Betrie­ben aber Ruhe herrscht. Es soll auch nicht allzu oft protestiert werden. Die Führung der CFDT will bis zu den traditionellen Demonstrationen am 1. Mai nichts mehr unternehmen. Die radikale Lin­ke und linksalternative Basisgewerkschaften wie Sud, die in der Union Syndicale Solidaires locker zusammengeschlossen sind, wollen den April nicht ohne weitere Proteste verstreichen lassen. Am kommenden Montag soll entschieden wer­den, wann die nächsten Aktionen stattfinden.
Umstritten ist, ob der Generalstreik auf den fran­zösischen Antillen ein Vorbild darstellt. Auf den Inseln Guadeloupe und Martinique konnte die Pro­testbewegung Anfang März nach wochenlangem Kampf fast alle ihre Forderungen durchsetzen, u.a. werden alle niedrigen Löhne um 200 Euro erhöht. Der CGT-Chef Thibault warnte bereits davor, einen fremden Konflikt auf das fran­zösische Festland »importieren« zu wollen. Hingegen verteilte Solidaires auf den Demonstra­tionen in der vergangenen Woche massenhaft Aufkleber mit der Aufschrift: »Wie in Guadeloupe: Wir können gewinnen! Generalstreik!« Auch der Sprecher der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA), Olivier Besancenot, betrachtet die Kämpfe auf den Antillen als erfolgreiches Modell. Chérèque klagte nun die radika­len Linken in Frankreich an, sie lauerten »wie Aasvögel« auf soziale Konflikte, um sie anzuheizen.
Beteiligt an den derzeitigen Protesten sind auch Hochschullehrer, Intellektelle und Studierende. Unter den Hochschullehrern traten seit Anfang Februar auch Gruppen in den Streik, die noch nie oder seit Jahrzehnten nicht mehr an einem Ausstand beteiligt waren, beispielsweise das Lehrpersonal der Universität Lyon-III. Diese eher rechtslastige Fakultät, an der unter anderem Jura und Geschichtswissenschaft unterrichtet wird, entstand im Mai 1968 aus einer Trennung eines Teils der Hochschullehrer von der bestreikten Universität Lyon-II. Ein Arbeitskampf schien angesichts dieser Tradition kaum denkbar, doch im Februar schloss sich ein Teil des Lehrpersonals, selbst der Juristen, einem landesweiten Streik an, auch wenn unter anderem rechte und rechtsextreme Studierendenverbände schäumten und dagegen zu protestieren versuchten.

Der Arbeitskampf richtet sich gegen ein Gesetz, das den Universitäten »Autonomie« zuspricht und deren Präsidenten gestattet, ihr Personal zu Mehrarbeit zu verpflichten. Die Regierung lässt das umstrittene Dekret derzeit überarbeiten, doch die Gewerkschaften erwarten nicht, dass es zu substanziellen Verbesserungen kommt.
Nunmehr ist auch die Studierendenbewegung, angefacht durch den Streik der Hochschullehrer, wieder erwacht. Die »Nationale Koordination der Studierenden« (CNE), eine basisdemokratische Bündnisorganisation, hat sich zuletzt am Wochen­ende in Strasbourg versammelt. Sie rief dort zur Ausweitung und unmittelbaren »Radikalisierung des Universitätsstreiks« auf. Es soll auch nach Bündnispartnern in anderen gesellschaftlichen Bereichen Ausschau gehalten werden. Die letzte Streikbewegung im Jahr 2007 war isoliert geblieben und gescheitert. Die Linke hofft und die Regierung fürchtet, dass diverse soziale Protestbewegungen mit unterschiedlichen Einzelforderungen sich nun vereinigen könnten.
Parisot will offenbar auch weiterhin ihren Beitrag leisten. Selbst in der symbolischen Frage der Begrenzung von Managergehältern und Bonuszahlungen bleibt sie hart. Die Regierung hatte eine freiwillige Selbstbeschränkung gefordert, doch Parisot sagte, ihr Verband habe »weder die Mittel noch den Wunsch«, den Mitgliedern so etwas zuzumuten.