Gewerkschaften und betriebliche Mitbestimmung

Diener ihrer Herren

In der Krise fällt den Gewerkschaften wenig mehr ein, als die betriebliche Mitbestimmung voranzubringen. Und selbst das nützt vor allem den Unternehmen, wie sich bei Opel und Schaeffler zeigt.

Die Krise galt gerade nichtleninistischen Mar­xisten, die die Revolution nicht der »Partei neuen Typs« in die Hände geben wollten, stets als Grund­lage der Emanzipationsbewegung der Arbeiter. Niemand hat diese Hoffnung so oft und klar formuliert wie der Antiautoritäre Paul Mattick. »Sicher ist«, schrieb er in der Einleitung zu ­einer Broschüre mit verschiedenen Aufsätzen zur fast schon mystischen Krisentheorie, »dass ein, die breiten Arbeitermassen erfassendes, revolutionäres Bewusstsein kapitalistische Krisenzustände voraussetzt.« Als wäre der Weltgeist in die Arbeiter gefahren, würden sie gezwungen werden, »Verwaltung und Leitung von Produktion und Distribution nach allgemein geltenden, gesellschaftlichen Regeln in die Hand zu nehmen, um so die Assoziation der freien und gleichen Produzenten zu verwirklichen«.

Wie schon nach 1929 oder 1973 ist von einem revolutionären Aufbruch nichts zu spüren. Immerhin können die ältesten Arbeiterorganisa­tionen, die Gewerkschaften, einen erheblichen Imagegewinn verzeichnen. Waren sie in den vergangenen beiden Jahrzehnten stets der »Reformverweigerung« verdächtigt worden, so gel­ten sie derzeit wieder als »modern«. Selbst in der Financial Times Deutschland darf der Vorsitzende des DGB, Michael Sommer, triumphierend das »Ende des neoliberalen Zeitgeistes« beschwören. Ausdruck dieses neuen Selbstbewusstseins sind auch die auf der Website der deutschen Einheitsgewerkschaft abrufbaren Vorschläge zur Be­kämp­fung der Krise durch Maßnahmen, die die Konjunktur beleben und die Nachfrage steigern, sowie für eine stärkere Finanzmarktaufsicht. Das dort formulierte Ziel einer »Marktwirtschaft für Menschen« würde den Gewerkschaftskritiker Mattick aber kaum zufrieden gestellt haben.
Wenn es schon mit der Revolution nicht so weit her ist, so ist doch die »Verwaltung und Leitung« der Betriebe immerhin ein wenig vorangekommen. Nicht etwa, dass die Proletarier aller Länder plötzlich die Herrschaft über die Betriebe in assoziierender Absicht übernommen hätten. Aber die aus ihrer Mitte gewählten Co-Manager der betrieblichen Mitbestimmung sind gefragt wie seit ewigen Zeiten nicht mehr. Abseits der zentralen Gewerkschaftsapparate, deren Vorschläge nur von Politikern und Journalisten überhaupt wahrgenommen werden und häufig genug lediglich einige in die Jahre gekommene Linke der mittleren Funktionärsebene befriedigen sollen, liegt die reale Macht der Gewerkschaften genau hier begründet. Vor allem in jenen Betrieben, die wegen der drohenden Pleite von den Medien besonders beobachtet werden – Opel und Schaeffler-Conti –, sind es die Vertreter der Beschäftigten, die im Fokus stehen. Während etwa von Hans Demant, dem Vorstandsvorsitzenden von Opel, kaum etwas zu hören ist, wurde der Betriebsratsvorsitzende Klaus Franz vom Handelsblatt schon als »heimlicher Boss« und von der Süddeutschen Zeitung als »Mr. Opel« bezeichnet. Und der feilscht derzeit mit der Bundesregierung als wichtigster »Bittsteller mit Kalkül« (Zeit) um Subventionen.

Das absonderlichste und zugleich lehrreichste Stück betrieblicher Krisenreaktion wird derzeit jedoch zweifellos bei Schaeffler-Conti aufgeführt. Als hätte man sich in aller Orthodoxie an die Vorgabe Brechts zum epischen Theater ge­halten, die Zustände bis zur Kenntlichkeit zu verfremden, zeigen sich gerade hier die Ursachen der Renaissance der Mitbestimmung und ihre Bedeutung für das weitere Funktionieren der Betriebe besonders anschaulich.
Bisher stets ob ihrer autoritären und gewerkschaftsfeindlichen Betriebsführung als »Pelzmantelträgerin aus Kitzbühel« von den Gewerkschaften geschmäht, avanciert dabei die milliardenschwere Eigentümerin Maria-Elisabeth Schaeff­ler mit Hilfe der Beschäftigten zur »Kultfigur des Protestes« (Bild). Die absurden Szenen einer plötzlich im Anorak auftretenden, unter Tränen von der Belegschaft gefeierten und das Eigentum zur »Verpflichtung und Verantwortung« verklärenden Chefin erinnern zwar vordergründig an eine zur Farce geronnene Betriebsgemeinschaft vergangener Zeiten, sind aber in Wirklichkeit vor allem Ausdruck einer fundamentalen Schwächung der Lohnabhängigen in Krisenperioden.
Es ist natürlich die Angst vor dem Verlust ihrer Jobs, die die Belegschaften und ihre Vertreter dazu bewegt, sich immer kompromissloser den Firmeninteressen unterzuordnen. Bei Schaeffler etwa fordern die über 200 000 Beschäftigten, um Hartz IV zu entgehen, im Einvernehmen mit der Unternehmensleitung staatliche Bürgschaften für das hoch verschuldete Familienunternehmen. Dass dabei vor allem mittels der Steuern anderer abhängig Beschäftigter das Privatvermögen der Familie wiederaufgestockt werden dürfte, wie selbst der Betriebsratsvorsitzende Norbert Lenhard zugesteht, spielt keine Rolle.
Dies symbolisiert den größer werdenden Bruch zwischen Belegschaft und Gesamtarbeiter. In Zei­ten der Konjunktur bemühen sich die Gewerkschaften als »Makler der Arbeitskraft« (Engels) immerhin darum, den Preis der Arbeit über die Betriebs­ebene hinaus und gegen die in der Konkurrenz der Einzelkapitale stehenden Bosse zu erhöhen. Natürlich geschieht auch dies lediglich im Rahmen des vermeintlich für den »nationalen Standort« Akzeptablen. Doch in der Krise begeben sich vor allem die Betriebsräte unter das schützende Dach ihrer Herren oder manchmal eben auch Herrinnen. Betriebliche Unterordnung und Reformismus markieren lediglich verschiedene Arten von Abhängigkeit unter konjunkturellen Schwankungen.

Bei geschicktem Co-Management kann die Gewerkschaft, wie im Falle Schaeffler, sogar noch vermeintliche Erfolge für sich verbuchen. Vor dem Hintergrund, dass Arbeitsminister Olaf ­Scholz (SPD) mit unverhohlener Antipathie für die »Dame im Nerzmantel« vor einigen Wochen Staatshilfe noch ausschloss, hat Schaeffler ihr rigides Auftreten als Betriebsführerin zumindest kurzfristig abgelegt. Dankbar für die Unterstützung »ihrer« Arbeiter und ihrer Betriebsräte, die fleißig Unterschriften für den Erhalt des Familienunternehmens sammeln, zeigt sie sich zu Zugeständnissen bereit. Nicht nur sollen in Zukunft die bisher geheim gehaltenen Unternehmensbilanzen von den Gewerkschaften eingesehen werden dürfen, sondern auch die Mitbestimmung soll ausgedehnt werden. Letztgenanntes ist der IG Metall besonders wichtig, waren doch in den vergangenen Jahren immer wieder Ferien- und Leiharbeiter ohne die Zustimmung der Betriebsräte eingestellt worden. Von nun an sollen Einstellungen, in nächster Zeit sicherlich vor allem Entlassungen, gemeinsam mit den Betriebsräten abgestimmt werden. Kurzarbeit und Lohnkürzungen hat die IG Metall bereits zugestimmt. Solch großzügig gewährte Mitbestimmung soll ja schließ­lich nichts kosten. Die Chancen auf die Bürgschaften haben sich aber ohne Zweifel erhöht, seit selbst der Vorsitzende der IG Metall, Bert­hold Huber, die »feste Überzeugung« vertritt, »dass Bund und Länder sich bei Schaeffler en­gagieren sollten«.

Die Mitbestimmung erhält so insbesondere in Krisenzeiten ihren Sinn als »Feuerwehr«, wie die Fachzeitschrift für Betriebsräte, Arbeitsrecht im Betrieb, in ihrer aktuellen Ausgabe titelt. Konnten auch in Boom-Zeiten gelegentlich bescheidene Reformen auf der Betriebsebene erzielt werden – wobei es sich zumeist schlicht um die Durchsetzung geltenden Rechts handelte –, so leisten die Co-Manager in der Krise ihren Anteil an der Exekution der Sachzwänge. Derzeit entwickeln sie sich speziell zu Wortführern, wenn es darum geht, Subventionen zu erbetteln.
Analog zu den Widersprüchen zwischen dem Gesamtkapital und den miteinander in Konkurrenz stehenden Einzelkapitalen unterstützen sie zudem den Prozess einer weiteren Spaltung zwischen den verschiedenen Belegschaften und inner­halb der Betriebe zwischen fest angestellten und Zeitarbeitern, die immer als erste entlassen werden. »Mitbestimmung verwandelt sich in eine Selbstvergatterung auf die betriebswirtschaftliche Räson … und lähmt jede soziale Gegenwehr«, schrieb Robert Kurz zu Recht im Freitag.
Dass Mitbestimmung dennoch sowohl von den Gewerkschaften, deren ehrgeizige Programme sie ad absurdum führt, als auch von vielen Linken gefeiert wird, macht die Sache noch schlimmer. So sieht etwa die stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, die Krise auch als Möglichkeit, »die Ausweitung der Mitbestimmung zu fördern«, wie sie auf einer Konferenz ihrer Partei verkündete.
Da war Paul Mattick trotz mancher Illusion, was die Entwicklung des Selbstbewusstseins des Proletariats in der Krise betraf, schon im Alter von 16 Jahren weitsichtiger. Er war einer der Hunderttausenden, die 1920 in Berlin gegen die Verabschiedung des Betriebsrätegesetzes demons­trierten, welches die Mitbestimmung etablierte. Nach heftigen Straßenkämpfen wurde er verhaftet.