Die Folgen der Wirtschaftskrise in der Türkei

Erdogan und die Tiger

Von der Wirtschaftskrise reden in der Türkei nur Miesmacher und Statistiker, behaup­tet zumindest die Regierung. In Anatolien, einst die Region des türkischen Wirtschafts­wunders, sieht man das anders. Dort sind die Folgen der Rezession bereits spürbar.

Eine Wirtschaftskrise gebe es in der Türkei nicht, und wenn doch, dann sei die Türkei von allen Ländern am wenigsten betroffen. Das ist die Ansicht des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, wie er sie zuletzt auf dem Londoner G 20-Gipfel vehement vertreten hat. Wer anders denkt, sei ein übelwollender »Krisenmarkt­schreier«. Auch Wirtschaftsminister Mehmet Simsek hält das Gerede von der Rezession offenbar für übertrieben und warf Ende März einigen Fernsehsendern vor, aus der Krise ein »Melodram« zu machen: »Von 70 Millionen nehmen sie zwei Leute und lassen sie weinen.«
Die Mitarbeiter des staatlichen Instituts für Sta­tistik (Tüik) produzieren indessen laufend Zahlen, die zu diesem offiziellen Bild nicht passen wol­len. Das letzte Mal haben sie damit etwas länger gewartet, nämlich bis nach den Kommunalwahlen am 29. März. Zwei Tage danach gab das Tüik bekannt, dass die türkische Wirtschaft im letzten Quartal 2008 um 6,2 Prozent geschrumpft ist. Nur Taiwan hat ein schlechteres Ergebnis zu verzeichnen. Zum Jahresanfang ist dann die Industrieproduktion um gut ein Fünftel eingebrochen, die verarbeitende Industrie um ein Viertel, die Exporte um mehr als ein Drittel.

Es besteht also kein Zweifel, dass auch die Türkei sich in einer ernsten Krise befindet. Der gewaltige Aufbruch der türkischen Wirtschaft nach der schweren Wirtschaftskrise 2001 ist vorläufig gestoppt. Das türkische Wirtschaftswunder hatte vie­le Gesichter. Nun bekommen vor allem die so genannten »anatolischen Tiger« die Folgen der globalen Krise zu spüren.
Wenn es um die anatolische Erfolgsgeschichte geht, dann kommen in der Türkei allen sofort die Provinzstädte Kayseri und Konya in den Sinn. Kayseri liegt malerisch zu Füßen des fast viertausend Meter hohen Vulkans Erciyes. Wie bei an­deren »Tigern« Anatoliens wurde der Wirtschafts­boom in Kayseri von bestimmten sozialen Faktoren begünstigt. Die Industrialisierung der Stadt konnte auf der mittelalterlichen Tradition der »Ahilik« genannten Kooperativen aufbauen.
Beispielhaft für den Aufstieg der Stadt steht der Lebensweg des Vorsitzenden der Industriekammer von Kayseri, Mustafa Boydak. Nach einem Jahr Grundschule ging er bei einem Schreiner in die Lehre. Eigentlich hatte er nicht vor, Unternehmer zu werden, er wollte nur einfach nicht auf dem Feld arbeiten. Später machte er sich mit seinem Bruder selbständig. Die Brüder Boydak be­gannen als erste in Kayseri mit der Massenfertigung von Möbeln und beschäftigen heute mehr als 12 000 Mitarbeiter. Die Boydak-Gruppe stellt mittlerweile eine breite Palette von Produkten her, hauptsächlich jedoch die Möbelmarken Istikbal und Bellona. Viele sind dem Beispiel der Brüder Boydak gefolgt, heute sind in der Möbelbranche 3 500 Firmen in Kayseri tätig. Doch aus dieser Stadt kommen auch Textilien, chemische Produk­te, Elektronik und anderes, was in rund 150 Länder exportiert wird.
Konya gilt als eine besonders religiöse Stadt. Viel islamisches Kapital ist in den vergangenen Jahren hierhin geflossen und einiges auch in den Ta­schen windiger Geschäftsleute verloren gegangen. Viele Kleinunternehmen wurden hier mit Textilien, Leder sowie Maschinen und Fahrzeugzubehör erfolgreich. Damit wurde Konya auch zum Zu­lieferer der bis vor kurzem boomenden türkischen Automobilindustrie in Bursa.
Kayseri und Konya sind nur die bekanntesten Beispiele, aber auch in Städten wie Gaziantep, Malatya und Denizli, um nur einige zu nennen, gab es in den vergangenen Jahren enorme Entwicklungen. Nicht nur cleverer Geschäftssinn exis­tiert in Anatolien.
Gemeinsam ist all diesen sonst recht unter­schied­lichen Städten die konservative Gesinnung ihrer Bewohner. Sie bilden die feste Wählerschaft von Erdogans islamisch-konservativer AKP. Nur eine gewisse Konkurrenz der Ultranationalisten und, vor allem in Konya, der Islamisten ist spürbar. Auch bei den Kommunalwahlen Ende März haben die »Tiger« Erdogan weitgehend die Stange gehalten, insbesondere Kayseri und Konya, ebenso wie der islamische Unternehmerverband Müsiad.
Dieselbe Wählerschaft von Erdogans AKP, aber auch die den Ultranationalisten nahe stehenden Unternehmer, die in Anatolien häufig paternalistisch auftreten, zeigen beim türkischen Schiffbau in Tuzla ein ganz anderes Gesicht. Arbeiten werden hier möglichst an Subunternehmer weitergegeben, die heuern und feuern wie es ihnen gerade passt. Berüchtigt sind die Werften für die vielen tödlichen Arbeitsunfälle.
Auf diese Weise ist die Türkei beim Schiffbau rasch auf den weltweit fünften Platz aufgestiegen. Noch in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres hatte der türkische Schiffbau um 28 Pro­zent zugelegt. In den vergangenen drei Mo­naten wurden aber 63 Prozent der Aufträge storniert. Nach Schätzungen der Gewerkschaften verlor die Hälfte der 40 000 Arbeiter ihren Job. Niemand kennt genaue Zahlen.

Neben den vorwiegend am türkischen Markt orientierten Unternehmen von Ankara und dem anatolischen Müsiad gibt es noch die kemalistischen Unternehmer von Istanbul. Der Verband, der Tüsiad, in dem unter anderem die Großunternehmerfamilien Sabanci und Koc vertreten sind, ist stark international orientiert und unterstützt die Annäherung an die EU und eine Modernisierung in Staat und Gesellschaft, weswegen er lange Zeit Erdogan und nicht die kemalistische Republikanische Volkspartei von Deniz Baykal unterstützt hat. Aufgrund des Missmanagements in der Wirtschaftskrise und mangelnder Bemühungen um die EU hat der Tüsiad sich jedoch von Erdogan abgewandt.
Der rasante Aufstieg der Türkei wäre indessen nicht möglich gewesen ohne den Zufluss ausländischen Kapitals. Vor zwei Jahren begann die Lira an Wert zu verlieren. Daraufhin erhöhte die Zentralbank drastisch die Zinsen. Dies stabilisier­te die Währung, führte aber dazu, dass sich türkische Unternehmer und Konsumenten noch mehr zinsgünstiges Geld aus dem Ausland liehen. Die internationale Finanzkrise schnitt diese Mög­lichkeit ab, während die Zentralbank die Zinsen nicht rasch senken konnte, weil ein noch tieferer Fall der Lira die Bedienung von Krediten in ausländischen Währungen noch mehr erschwert hätte. So brach der inländische Markt gleichzeitig mit den Exporten zusammen. Die Exporte gingen um ein Drittel, der heimische Konsum um ein Sechstel zurück.
Aber muss man deshalb von einer Krise sprechen? Wirtschaftsminister Mehmet Simsek offen­bar nicht.