Das neue Buch von Judith Butler

Feminismus für Refresher

In ihrem neuen Essayband »Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Geschlechtlichen« untersucht Judith Butler das Veschwinden der Familie und die Regulierung von Intersexualität und Transsexualität.

Zwischen Judith Butler und dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann liegen Welten, doch eins haben sie gemeinsam: So wie Luhmann mit je­dem neuen Text zugleich auch seine komplette Terminologie aufs Neue erklären musste, was zu unglaublichen Re­dun­danzen führte, die bereits in den Titeln seiner Bücher angelegt sind – »Das Recht der Gesellschaft«, »Die Wirtschaft der Gesellschaft«, »Die Gesellschaft der Gesellschaft« etc. –, sieht sich auch Judith Butler gezwungen, die Grundlagen ihrer epochalen Gender-Theorie stets aufs Neue in Erinnerung zu rufen.
Das fällt bei dem soeben erschienenen Buch »Die Macht der Geschlechternormen« besonders auf, da es sich um eine Sammlung von Texten handelt, die in den unterschiedlichsten Publikationen erschienen sind. Ihre zuerst in das »Das Unbehagen der Geschlechter« darlegte These von der Performativität des Geschlechts, das uns weder »gegeben« noch angeboren ist, sondern erlernt und geformt wird, steht nach wie vor am Beginn all ihrer jüngeren Texte, ganz so, als müsse es immer wieder ins Gedächtnis gerufen und gegenüber jenen wirkmächtigen Stimmen verteidigt werden, die Geschlechterdifferenz nach wie vor untermauern.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Butler in ihren neueren Aufsätzen nur ein Update von »Das Unbehagen der Geschlechter« liefert, sondern es zeigt lediglich, dass die von Butler entscheidend geprägten Gender- und Queer-Stu­dies sogar im wissenschaftlichen Kontext noch lange nicht als Allgemeinwissen oder Standard vorausgesetzt werden können. Ein gewisser Legitimationszwang, der in all diesen Texten mit­schwingt, macht auf ernüchternde Weise deutlich, wie dünn das Eis ist, auf dem Butler bis heute um Anerkennung oder auch nur Aufmerksamkeit ringen muss. Viele, die mit jün­geren linken Diskursen vertraut sind, aus denen Gender- und Queer-Studies gar nicht mehr wegzudenken sind, mag es verwundern, wie beharrlich Judith Butler immer wieder auf das Einmaleins der Gender-Theorie zurückkommt, doch genau das macht ihre Texte sympathisch, verhindert es doch ein Abgleiten in wissenschaft­liche Hermetik, die davon ausgeht, dass alles stets bei allen Lesern vorausgesetzt werden kann.
Butler weiß, dass dies nicht der Fall ist. Ihre hier versammelten Texte sind in einer Zeit gesellschaftlicher Regression entstanden, in der zwar die Gender-Forschung an den Universitäten voranschreiten konnte, Werte wie Religion und Kleinfamilie zugleich jedoch eine ungeahnte Renaissance erfahren haben.
Daher ruft Butler noch einmal in Erinnerung, dass Gender keine biologische Konstante ist, sondern »eine Art von Tun (…), eine unablässig vollzogene Tätigkeit, die zum Teil ohne eigenes Wissen und ohne eigenes Wollen abläuft«. Butler betont mehr denn je den Zwang, dem jeder Mensch in jeder Situation ausgesetzt ist, und wirkt damit jenen Stimmen innerhalb der Gender-Forschung entgegen, die bereits optimistisch glauben, Gender könne jederzeit neu erfun­den und wie ein Hemd abgestreift werden. »Was ich als das ›eigene‹ Gender bezeichne, erscheint manchmal als etwas, dessen Urheber ich bin oder das ich sogar besitze. Die Bedingungen, die das eigene Gender kreieren, liegen jedoch von Anfang an außerhalb meiner selbst, wurzeln außerhalb meiner selbst in einer Sozialität, die keinen einzelnen Urheber hat (…).«
Diesen Gedanken greift Butler in ihrem Aufsatz »Gender-Regulierungen« noch einmal auf, indem sie die provokante Frage stellt, »ob es überhaupt ein Gender gibt, das vor seiner Regulierung existiert«. Betrachtet man Gender als soziale Kategorie, deren Normen lediglich biologisch begründet werden, wird schnell deut­lich, dass niemand mit einem bestimmten Gen­der geboren wird, sondern dass Gender mühsam als Verhalten erlernt werden muss. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, wie wichtig es ist, den Begriff Gender von dem des Geschlechts zu trennen. Es gibt konkrete Regulierungen, »recht­liche, militärische, psychiatrische und vie­le mehr«, wie Butler ausführt, die sich am biologischen Geschlecht orientieren, indem sie fest­legen, was und wie Mann und Frau sein sollen. Doch genau diese Festlegungen widersprechen der Offenheit von Gender, das nicht an Zuschrei­bungen wie »Mann« oder »Frau« gebunden ist.
Um das zu illustrieren, hat sich Butler in ihren jüngeren Texten mit den Transgender- und Intersexualitäts-Bewegungen beschäftigt. Anhand der dort geführten Debatten kann verdeutlicht werden, dass es keine angeborene »Wahr­heit« des Geschlechts gibt. Butler richtet sich auch gegen die »weitverbreitete Praxis, Säuglinge und Kleinkinder mit geschlechtlich nicht eindeutiger oder hermaphroditischer Ana­tomie im Namen einer Normalisierung dieser Körper zwangsweise chirurgischen Eingriffen zu unterziehen«.
Der Umgang mit intersexuellen Menschen ver­deutlicht, dass Gender-Kategorien vor allem dem Akt der Normalisierung dienen, für den es kein biologisches Fundament gibt. Es handelt sich bei Geschlecht ebenso um ein Regulativ wie bei den ideologisch ebenfalls vorbelasteten Begriffen Familie und Verwandtschaft, ein weiterer Themenkomplex, den Butler in ihren Texten kritisch beleuchtet. Solange die Ehe, die auch für viele queere Paare erstrebenswert erscheint, rechtlich wie gesellschaftlich die einzige Form darstellt, um Verwandtschaftlichkeit herzustellen, werden sämtliche anderen sozialen Ver­bindungen verkannt.
Um genau diese anderen Verbindungen, die man auch Wahlverwandtschaften nennen könn­te und die von Butler als Solidargemeinschaft definiert werden, geht es in diesem Buch. Die konventionelle Familie kann eine solche Solidargemeinschaft nicht oder nur bedingt herstellen, denn seine Familienangehörigen sucht man sich – mit Ausnahme des Ehepartners – nicht aus.
Die Realität von Diskriminierung, Verächtlich­machung, Hatecrimes und Internierungen von Menschen, die nicht den jeweils herrschenden Geschlechternormen entsprechen, zeigt, dass die Gender-Theorie keineswegs ein »Luxus­problem« verhandelt, wie manche Kritiker behaupten. Repressivie Geschlechternormen sind existenzbedrohend. Deshalb argumentiert Judith Butler über weite Strecken ganz konkret, jen­seits von Exkursen zu Hegel, Freud und Foucault, die es in ihren Texten natürlich auch gibt, und findet zu einer klaren feministischen Sprache.
Mit Deutlichkeit weist Judith Butler in ihrer Ein­leitung darauf hin, dass sämtliche Gender und Queer Studies, an deren Entstehen sie selbst ent­scheidend beteiligt war, keine postfeministischen Phänomene sind, sondern im klassischen Feminismus wurzeln. »Dass der Feminismus der Gewalt gegen Frauen, ob nun sexueller oder nichtsexueller Gewalt, immer entgegengetreten ist, sollte die Grundlage für ein Bündnis mit diesen anderen Bewegungen abgeben, da phobische Gewalt gegen Körper ein Element ist, das den Aktivismus gegen Homosexuellenfeindlichkeit und den Kampf gegen Rassismus, das feministische Engagement, Trans- und Intersex-Aktivismus eint.« Erschreckend an diesem Satz ist, dass er so auch schon in den siebziger Jahren hätte geäußert werden können. Sind wir seitdem wirklich noch nicht weitergekommen?

Judith Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, 416 Seiten, 24,80 Euro