Die Debatte über Polizeigewalt in Großbritannien

Überwachung, umgekehrt

Die Londoner Polizei wird wegen ihres Vorgehens bei den Potesten gegen den G 20-Gipfel nicht nur von Linken kritisiert. Die Beamten erwartet nun eine Prozesswelle

Nicht nur für gestandene Protestler ist Brutalität von Polizisten keine große Neuigkeit. Bei Ausschreitungen schlägt so mancher Ordnungshüter gerne mal kräftig zu. Warum auch nicht? Nach dem Riot muss die Polizei selten ihr Verhalten rechtfertigen, und ein einzelner Polizist kommt fast immer ohne Konsequenzen davon. Selbst wenn es ein juristisches Nachspiel gibt, sind da oft mindestes fünf andere Polizisten, die die Unschuld des Kollegen bezeugen können.
Dies gilt im Prinzip auch in Großbritannien. Doch seit der 47jährige Ian Tomlinson während der Proteste gegen den G 20-Gipfel in London starb, ist die britische Polizei ungewöhnlich breiter Kritik ausgesetzt. Selbst in konservativen Zeitungen wird über die Brutalität der Polizei diskutiert, und es findet sich kaum ein Politiker, der die Ordnungshüter verteidigen möchte.
Man könnte denken, die Polizei habe sich dies selbst eingebrockt. Sie hatte zunächst behauptet, Tomlinson habe einen Herzinfarkt erlitten und die ihm zu Hilfe eilenden Polizeisanitäter seien von Demonstranten mit einem Hagel von Flaschen beworfen worden. Doch dann erschienen Videos in den britischen Medien, die zeigten, dass die Beamten gelogen hatten. Tomlinson, der nicht an der Demonstration teilgenommen hatte, sondern auf dem Heimweg von der Arbeit war, wurde zum Opfer von unprovozierten Attacken durch mindestes einen Polizisten unmittelbar bevor er starb. Die Todesursache war kein Herzinfarkt, sondern es waren innere Blutungen, wie eine zweite unabhängige Obduktion ergab. Die angeblichen Flaschenwürfe konnten als freie Erfindung der Polizeipressestelle entlarvt werden.
Im Zeitalter des »Bürgerjournalismus« und der omnipräsenten Kameras haben selbst Polizei­lügen kurze Beine. Tag für Tag haben in den vergangenen zwei Wochen die britischen Medien neue Videos von Protesten gegen den G 20-Gip­fel veröffentlicht. Sie zeigen nicht nur das brutale Vorgehen einzelner Beamter. Deutlich wird auch, dass viele Polizisten entgegen der Vorschriften ihre Erkennungsnummern entfernen, um möglicher Identifizierung zu entgehen.
Die britische Polizei versteht sich im europäischen Vergleich als liberal, weil sie bei Riots weitgehend auf Tränengas und Wasserwerfer verzichtet. Doch das heißt auch, dass es häufiger zu direktem Kontakt zwischen Polizei und Demon­stranten kommt. Nicht wenige Polizisten finden das gut. Man habe den »Ungewaschenen ein paar gute Tritte verpasst«, schrieb ein Beamter auf dem Policemen’s blog nach dem G 20-Gipfel in bester Hooligan-Manier. Bereits im Vorfeld hat­te der 27jährige Rob Ward anscheinend sein ­Facebook-Konto genutzt, um aller Welt mitzuteilen, dass er »beim G 20 ein paar langhaarige Hippies verprügeln« werde.
Die Londoner Polizei erwartet nun eine Prozesswelle. Gegen zwei Beamte ermittelt die unabhängige Kommission für Polizeibeschwerden bereits, in einem Fall wegen Totschlags. Eine Londoner Anwaltskanzlei vertritt allein 14 Demonstranten, die Kopfverletzungen durch Schlagstockeinsatz erlitten.
Die Verantwortung für das Vorgehen der Polizei liegt aber am Ende nicht bei einzelnen Polizisten, sondern bei der britischen Regierung. Diese hat fundamentale Bürgerrechte im so genannten Kampf gegen den Terror unterminiert. In Zeiten der Krise werden nun die umfangreichen neuen Rechte der Polizei eingesetzt. In der scharfen Polizeikritik artikuliert sich nicht zuletzt das wachsende Unbehagen vieler Briten über diese Politik.