Der Film »Home«

Leben, leben, leben auf der Autobahn

»Home« von Ursula Meier ist ein sehr bizarrer Heimatfilm über den Widerstand einer Familie gegen die Zerstörung ihrer Privatidylle.

Im Radio läuft gerade ein aufgeregter Bericht über die bevorstehende Eröffnung einer neuen Autobahn. »Ah, sie reden über uns«, meint Marthe, die von Isabelle Huppert gespielte Mutter in »Home«. Der Begriff Zwischennutzung, mit dem in der Regel die temporäre Nutzung leer stehender Räume oder Flächen gemeint ist, erfährt in dem Debütfilm der Franko-Schweizerin Ursula Meier eine surreale Anwendung. Denn zwischengenutzt wird hier eine Autobahn, die vor vielen Jahren gebaut und nie in Betrieb genommen wurde. Seitdem dient sie einer Familie, deren einsames Haus am Rande der Autobahn steht, als Hockeyfeld, Grillplatz, Fahrrad­paradies und Sonnenterrasse. Eines Tages kommen monströse Baufahrzeuge, aus denen Männer in schweren Stiefeln und signalfarbenen Westen steigen. Die Regisseurin inszeniert diesen Auftritt, der mit dröhnendem Industrial unterlegt ist, als eine feindliche Invasion. Während die Familienmitglieder wie hypnotisiert und nur mit Nachthemden bekleidet am Straßen­rand stehen, werden Leitplanken angebracht und Asphalt wird aufgeschüttet – das Gegenüber bleibt dabei anonym und buchstäblich un­mensch­lich, was dem Szenario eine science-fiction-hafte Atmosphäre verleiht.
Bald wird die Autobahn in Betrieb genommen, doch die Familie bleibt; die Mutter kann sich einfach nicht vorstellen, woanders noch mal von vorne anzufangen. Dabei wird die Autobahn wie eine Naturkatastrophe betrachtet, mit deren drastischen Folgen man sich zu arrangieren hat – die Perspektive, dagegen aktiv zu werden oder umzuziehen, scheint in keinem Moment auf. Zunächst sieht alles danach aus, als setze sich die Familie einfach über den Belagerungszustand hinweg, mit einer ebenso störrischen wie spielerischen Form des Widerstands. Der Schulweg der Kinder führt über die Straße, nun kriechen sie eben durch einen schmalen Tunnel. Das Pausenbrot wird auch mal im hohen Bo­gen über die Fahrbahn geworfen, der Gemüsegarten weiterhin genutzt. Die älteste Tochter geht mit ihrer Verdrängungsleistung am weitesten. Sie reagiert auf die am Haus vorbeidonnernde und schier unendliche Blechlawine, als sei diese gar nicht existent. Stur sonnt sie sich wei­terhin im Liegestuhl, allein die Heavy-Metal-Sounds schallen von nun an aus dicken Kopfhörern.
Doch bald lässt sich die Belastung durch Lärm und Abgase nicht mehr ignorieren. Die pubertierende Tochter bekommt hypochon­drisch-paranoide Anwandlungen und hysterisiert damit ihren jüngeren Bruder, die Mutter zieht sich immer mehr in sich selbst zurück. Schließlich sieht sich die Familie in die totale Isolation gezwungen. Zunächst dämmen Ohrstöpsel, die vor dem Schlafengehen kollektiv verwendet wer­den, den Lärm der Außenwelt, später werden Fenster zugemauert und mit Schallschutz versehen – das Haus als einziger Zufluchtsort wird allmählich zum klaustrophobischen Gefängnis und Ort von Selbstauflösung, Verwahrlosung und Wahnsinn.
»Home« ist eine bizarre Mischung aus grotesker Komödie und Drama, aus Thriller, Öko-, Katastrophen-, Horror- und Science-Fiction-Film. Vor allem aber ist es ein Film über die Instanz der Familie – als widerständige Zelle gegen die Außenwelt, aber ebenso als destruktiver Apparat, der sich gegen sich selbst richtet, implodiert. Dabei ist die Familie in »Home« nur schwer zu klassifizieren. Sie ist weder spießig noch hippiesk, weder bürgerlich noch richtig prollig. Nur darüber, dass Eltern und Kinder eine große Liebe und ein starker Zusammenhalt verbindet, besteht kein Zweifel. Die Regisseurin entwirft immer wieder Szenen familiärer Idylle und Unbekümmertheit, die vor allem im Badezimmer und nicht wie so oft am gemeinsamen Esstisch stattfinden. Allerdings hat die Distanzlosigkeit und völlige Abwesenheit körperlicher Scham – die ältere Tochter sitzt mit dem kleinen Bruder rauchend in der Badewanne, die Eltern unterhalten sich, bis sich alle gegenseitig nassspritzen – auch etwas Irritierendes. Im Ausnahmezustand verwandelt sich nämlich die familiäre Nähe in etwas Bedrohliches und Gewalttätiges, insbesondere die Figur der Mutter bekommt zunehmend etwas Neurotisch-Übergriffiges. In einer thrillerhaft aufgeladenen Szene stopft sie ihrem schlafenden Sohn Ohropax ins Ohr, in einer anderen weckt sie ihn mitten in der Nacht auf und zwingt ihn sanft, auf dem Seitenstreifen mit seinen Rollerblades zu üben. Auch das Leben im Haus wird auf immer engeren Raum ver­drängt, im vergleichsweise ruhigen Schlafzimmer der Eltern wird ein Matratzenlager eingerichtet, man spürt förmlich, wie die Luft darin knapp wird. Die Innenwelt breitet sich dagegen immer stärker aus, sie zieht den Figuren regelrecht das Leben aus ihren Körpern, während das Außen allmählich ganz verschwindet. Die Außenwelt ist eigentlich kaum existent.
Zunächst tauchen ein paar Kinder auf, mit de­nen sich der Sohn zum Spielen trifft, irgendwann sind sie einfach nicht mehr da. Der Vater kommt zwar von der Arbeit nach Hause, die Kinder gehen in die Schule, die Einkäufe werden nach Hause gebracht, aber diese Welt ist für den Zuschauer unsichtbar. Und mit der Welt der Autobahn gibt es ohnehin keinerlei Kommunikation – ausgenommen die hupenden Lastwagen, wenn sich die Tochter mal wieder im Bikini zeigt. Einmal gibt es Stau, die ano­nymen Autos bekommen plötzlich eine Identität was sich in Form von voyeuristischen Blicken äußert; Leute steigen aus und begutachten die Familie, als handele es sich bei deren Mitgliedern um exo­tische Tiere. Der Mutter wird es bald zu viel, sie packt die Sachen für einen Ausflug ins Grüne. Erstmals kann die Familie wieder die Straße überqueren, zwischen den wartenden Autos schlängelt sie sich mit Picknickkorb und Kühltasche hindurch – eine surreale Szene, die an Jacques Tatis groteske Zivilisationskritik erinnert, insbesondere an seinen Film »Playtime«.
Auch wenn mancher Inszenierungseinfall der Regisseurin vielleicht etwas gewollt erscheint, entfaltet »Home« ein faszinierend-wunderliches Szenario mit kafkaesken Zügen, das Agnès Godard (man kennt sie vor allem als Kamera­frau von Claire Denis) in phantastischen Bildern ein­gefangen hat. Ursula Meier hält ihre Familie dabei bewusst in einem Zustand der Ambivalenz fest – zwischen Realismus und Surrealismus, zwischen Idylle und Abgrund. Denn nicht zuletzt ist »Home« ein Film über die Vergeblichkeit, sich der Außenwelt zu entziehen. Der Eskapismus der Familie mobilisiert zwar zunächst ungeahnte Kräfte, doch letztlich werden sie zer­störerisch wirksam. Wenn Eltern und Kinder am Ende des Films wie Maulwürfe wieder ans Tageslicht treten, ist es, als seien sie auf einem unbekannten Planeten gelandet.

»Home« (Schweiz/Frankreich/Belgien 2008). Regie: Ursula Meier. Darsteller: Isabelle Huppert, Olivier Gourmet