Die soziale Lage auf den französischen Antillen

Arm, aber autonom

Die nach dem Generalstreik auf den französischen Antillen getroffenen Vereinbarungen werden vielfach nicht eingehalten. Präsident Sarkozy spricht nun über mehr Autonomie.

20 Punkte im Abitur waren möglich, 20,92 Punkte hat er bekommen. Der junge Mann hält den französischen Rekord, und ein solches Wunderkind hat wohl einen Händedruck des Premierministers verdient. So kam es auch, als François Fillon sich am Donnerstag der vergangenen Woche auf der als »Überseebezirk« zu Frankreich zählenden Insel La Réunion aufhielt, wo der ungewöhnlich erfolgreiche Abiturient wohnt.
Waren zu Anfang dieses Jahres sämtliche französischen »Überseebezirke« von heftigen sozialen Unruhen erschüttert worden, so blieb es während der jüngsten Visite des Premierministers auf der Insel im Indischen Ozean weitgehend ruhig. Es wurde lediglich offenkundig, dass die »Generalstände für Übersee« die Mehrheit der Inselbevölkerung absolut kalt lassen. Diese Kongressini­tia­tive war nach den Unruhen, bei denen eine Angleichung der Lebensverhältnisse an die der »Metropole«, also das europäische Frankreich, gefordert wurde, von der Regierung lanciert worden.
Präsident Nicolas Sarkozy war sich offenbar weniger sicher, ob es bei seinem Besuch auf den französischen Antillen ruhig bleiben würde. Seit dem Generalstreik am Anfang des Jahres sind dort 900 Mann aus den Sondereinsatzkräften der Gendarmerie stationiert. Eigens für die Visite Sarkozys auf den beiden Inseln Guadeloupe und La Martinique wurden Ende Juni 1200 weitere Gendarmen eingeflogen, obwohl der Präsident nur 28 Stunden in der Karibik weilte.

Das Misstrauen hatte gute Gründe, denn auf Guadeloupe und La Martinique beklagen sich zahllose Menschen darüber, dass die Vereinbarungen, die Anfang März getroffen wurden, um den Streik zu beenden, nicht eingehalten werden. Damals wurde eine Liste von 200 Gütern des Grundbedarfs erstellt, und die Regierung versprach, dass diese Waren zukünftig billiger verkauft werden. Die Inselökonomie ist auf das französische Festland fixiert, es gibt kaum ökonomische Beziehungen mit Lateinamerika und karibischen Staaten. Das verschafft der weißen Oberschicht Einfuhrmonopole, und die Handels­oligarchie sieht offenbar keinen Anlass, ihre ­Privilegien aufzugeben. Deshalb stellen die Menschen nun fest, dass die 200 aufgelisteten Produkte ständig angeblich »vergriffen« sind und in den Regalen fehlen. Alle anderen Artikel hingegen wurden noch teurer.
Vereinbart wurde auch, dass alle in Niedrig­lohnsektoren Beschäftigten monatlich 200 Euro mehr erhalten sollen. Auch diese Regelung wird oft nicht respektiert. Mehrere große Hotelketten und Ferienclubs, unter ihnen der Club Med, ziehen es vor, stattdessen die Arbeitskräfte zu entlassen, die eine Lohnerhöhung beanspruchen können. So kämpfen 750 Hotelbedienstete derzeit gegen ihre Kündigung.
Nicolas Sarkozy entschied sich, lieber gar nicht erst über die sozialen und ökonomischen Probleme zu sprechen. Politiker der Insel verlangen mehr Autonomierechte, darüber möchte Sarkozy nun ein Referendum abhalten. Allerdings nur auf La Martinique und vorläufig nicht auf Guadeloupe, denn dort reagierten die Mandatsträger eher reserviert auf die Idee, »mehr Autonomie ohne mehr Geld« zur Verfügung zu haben. Ihr Misstrauen könnte vielleicht nach den jüngsten Ausführungen Sarkozys noch wachsen. Der Präsident erklärte auf La Martinique: »Je autonomer eine Gemeinschaft ist, desto mehr muss sie die Dinge selbst in die Hand nehmen.« Erweiterte Autonomierechte könnten dazu führen, dass Frankreich künftig die Transferleistungen reduziert.

Auf Guadeloupe rief das »Kollektiv gegen Ausbeutung« (LKP), das von Januar bis März den Generalstreik organisierte, zu einer »Aktionswoche« gegen Sarkozys Besuchs auf. An jedem Werktag wurden Straßenblockaden errichtet. Doch zur Abschlussdemonstration am Samstag kamen weniger als 3 000 Menschen.
Ein Teil der Bevölkerung ist nach dem 44tägigen Generalstreik derzeit kampfesmüde, und das LKP steckt in der Krise. Es gibt politische Differenzen unter den beteiligten Gewerkschaften und »Vereinigungen der Zivilgesellschaft«, aber auch Interessenkonflikte. Der größte Arbeitgeber auf den Inseln ist der französische Staat. Dessen Bedienstete erhalten auf den Antillen eine Teuerungszulage in Höhe von 40 Prozent des Gehalts, die den anderen sozialen Schichten nicht zugute kommt. Das LKP hat bislang keine Diskussion über eine Reform oder die Abschaffung dieses Privilegs begonnen. Denn die Gewerkschaften sind im öffentlichen Sektor am stärksten, viele Wortführer des LKP sind Staatsangestellte.