Der Mond und die Tiere im Watt

Leben nach dem Mond I

Die Tiere im Watt sind dem Mond ganz besonders unterworfen. Dem Schlickkrebs diktiert der Mond, wann er seine Nahrung zusammenfegen muss. Der Gezeitenmücke diktiert er den kompletten – zweistündigen – Lebenslauf.

Ebbe und Flut haben astronomische Ursachen, die besonders im Wattenmeer auch astronomische Dimensionen erreichen. Weil sich Mond und Erde in einem ungleichen Masseverhältnis (Erde : Mond = 81 : 1) um einen gemeinsamen Schwerpunkt drehen, geraten die kontinentalen Küsten zweimal am Tag mit der Erddrehung in einen Flutberg und fallen anschließend ebenfalls zweimal in ein Ebbetal. Für alle Lebewesen, die zwischen kommendem und gehendem Wasser leben, wird somit auch der Mond zum Taktgeber ihrer Tätigkeiten. Und den Unterschied von Ebbe und Flut kann man nicht nur sehen, man hört ihn auch. Wo vorher die Wellen brachen und Möwen schrien, ist eine merkwürdige Ruhe eingekehrt. Die Möwen wie andere Wat- und Wattvögel suchen laufend, aber still, nach allem möglichen Getier und beginnen damit schon, wenn das Wasser noch nicht ganz am Horizont verschwunden ist.
Es dauert dann aber nicht lange, bis sich ein geräuschhaftes Knistern über das Watt legt, das direkt aus dem sich gegen die Austrocknung wehrenden Schlick zu kommen scheint, so sehr ist es überall vernehmbar. Die knisternden Laute aber sind tierischen Ursprungs. Sie kommen von winzigen, millimetergroßen Schlickkrebsen (corophium volutator). Wenn das Wasser geht, strecken sich diese kleinen Krebse aus ihren U-förmigen Wohnröhren und beginnen, kleinste Nahrungsteilchen mit ihren Scheren zusammenzufegen. Während dieser Such-, Streck- und Kratzaktionen zerplatzt jedesmal eine feine Wasserhaut zwischen ihrem Brustpanzer und den Vorderbeinen. Daher kommt das Knistern, das den Grobwechsel zwischen dem mondgesteuerten Leben im Wasser und dem Leben ohne Wasser anzeigt.
Es gibt noch wesentlich direkter vom Mond gesteuerte Lebensläufe im Watt. Die Gezeitenmücke (clunio marinus), ebenfalls nur wenige Millimeter groß, lebt ganz im Mondtakt. Alle Mücken schlüpfen nur während der Sommermonate bei Voll- oder Neumond in den Abendstunden aus ihren Puppen. Zuerst die flugfähigen Männchen, die sich dann sofort auf eine der Weibchenpuppen stürzen, die flugunfähigen Weibchen aus der Puppenhülle zerren, um sie schleunigst zu begatten. Danach bringen die Männchen die Weibchen an einen geeigneten Eiablageort, an dem das Weibchen um die 120 Eier ablegt. Das muss alles sehr schnell gehen, denn zwei Stunden nach dem Schlüpfen sterben die Gezeitenmücken wieder. Zwei Wochen später, beim nächsten Neu- oder Vollmond, kommen schon wieder andere Mücken kurz zusammen. Das erstaunliche dabei ist, dass die aus den Eiern geschlüpften Mückenlarven, die in Algenfadengeflechten leben, während ihrer Entwicklung nur einmal Vollmondlicht gesehen haben müssen, um ihre gesamte Entwicklung mit dem Mondzyklus zu synchronisieren. Das schaffen sie auch, wenn der Mond nur funzlig leuchtet. Im Mondrhythmus werden die Schutzpigmente über den Larvenaugen periodisch verringert, so dass die Larven auch schwaches Mondlicht sehen können. Die Gezeitenmücke ist das Paradebeispiel für einen Lunarperiodismus, einen vom Mond gesteuerten Entwicklungsverlauf, schlechthin.