Wie wurde die Wehrmacht, was sie war?

Das Making of der Wehrmacht

Am 1. September vor 70 Jahren begann mit dem Überfall Deutschlands auf Polen der Zweite Weltkrieg. Wie konnte es einem besiegten Deutschland gelingen, nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, in nur zwei Jahrzehnten ein derart schlagkräftiges neues Heer aufzustellen?

Schon seit etwa 1970 bewiesen die Forschungen vor allem jüngerer Historiker, dass die Wiederaufrüstung insgeheim lange vor der »Machtergreifung« Hitlers begann. Das Dokument jedoch, welches die Planung eines Revanchekrieges seit Mitte der zwanziger Jahre klar beweist, wurde nicht bekannt. Erst die Wiederentdeckung des von General Hans von Seeckt, Chef der Heeresleitung der Reichswehr, im Jahre 1923 initiierten Dreistufenplanes für den Aufbau eines 102 Divisionen starken Heeres entlarvte die Führung der Reichswehr als eine Clique von Revanchisten, die hinter dem Rücken von Regierung und Parlament die systematische Aufrüstung der Reichswehr vorantrieb. Ziel der Reichswehrführung war es, Deutschland auf einen Angriffskrieg vorzubereiten. Die »Schande« des »Versailler Diktats« sollte ausgelöscht, verlorenes Gebiet zurückerobert und die Großmachtstellung von 1914 wiedereingenommen werden.
Die 1997 im Militärarchiv in Freiburg aufgefundenen Dokumente mit dem Titel »WH 808 – Übersicht der Gesamtstärken und -ausrüstung der Kommandobehörden und Truppeneinheiten des Feldheeres«, insgesamt vier Hefte mit einigen hundert Seiten, brachten eines der am besten gehüteten Geheimnisse der deutschen Militärgeschichte ans Tageslicht. In Verbindung mit Anfang der neunziger Jahre aus russischen Archiven freigegebenen Dokumenten über die geheime Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee widerlegten sie eine der größten Fälschungen der deutschen Geschichte: die Reichswehr hätte nichts weiter als die Landesverteidigung im Sinn gehabt und wäre erst von Hitler als ein Werkzeug seiner Gewaltherrschaft missbraucht worden. In den Diskussionen um die »Wehrmachtsausstellung«, die etwa zur selben Zeit stattfanden, wurde dieser Mythos als untauglicher Versuch der Konstruktion einer »sauberen Wehrmacht« dekonstruiert.

Der Generalplan von 1923
Der Planungsstab der Reichswehr orientierte sich an ehrgeizigen Zielen: ein Heer mit 2,8 bis drei Millionen Soldaten in 102 Divisionen, aufgeteilt in 39 Grenzschutzdivisionen und 63 Felddivisionen. Das Verblüffende an diesem geheimen Rüstungsplan war, dass das deutsche Heer am 1. September 1939 genau diese »Kriegsstärke« erreicht hatte – bis in die Details stimmten Größe, Ausstattung und Aufgliederung der Wehrmacht Ende 1939 mit dem von 1923 bis 1925 erarbeiteten Generalplan überein. Die Reichswehr hatte 42 Generale, für das Große Heer waren 252 vorgesehen. Genauso viele Etatstellen für Generale wies auch das Feldheer 1939 auf.
Acht Armeen hatte man 1925 projektiert – so viel wie zu Beginn des Ersten Weltkrieges – und tatsächlich standen 1939 acht vollwertige Ar­meen bereit. Der Entwurf für diese Streitmacht wurde Mitte der zwanziger Jahre von sechs Majoren und zehn Hauptleuten erarbeitet. »Diese Arbeit war damals das Geheimste vom Geheimen«, so beginnt ein Handschreiben, das Generalleutnant a. D. Walter Behschnitt 1960 im Bundesarchiv zurückließ, nachdem er im Bundesarchiv in Koblenz die 1945 von den US-Streitkräften beschlagnahmte und inzwischen aus den USA zurückgekehrte Akte wiedergefunden hatte. Fünfunddreißig Jahre zuvor hatte er als junger Hauptmann in der Organisationsabteilung des Truppenamtes der Reichswehr gemeinsam mit anderen Offizieren dieses Planwerk erarbeitet.
Während der geheime Rüstungsplan, der die Grundlage aller weiteren Rüstungsprogramme bis zum Jahre 1936 werden sollte, ausgearbeitet wurde, saß der österreichische Gefreite Adolf Hitler wegen Hochverrats auf der Festung Landsberg und schrieb an seinem Buch »Mein Kampf«. Ohne die detaillierte Vorarbeit der Abteilungen des geheimen Generalstabes und anderer Heeresämter hätte Deutschland keinesfalls binnen sechs Jahren die stärkste und modernste Land- und Luftstreitmacht Europas auf die Beine stellen können, die in den ersten Kriegsjahren die Armeen seiner Nachbarstaaten überrollte.
Planung und Durchführung der Aufrüstung fanden unter Umgehung der Bestimmungen des Friedensvertrages von Versailles hinter dem Rücken des Parlamentes statt. Mit dem Abzug der Interalliierten Militärkommission (IMKK) im Februar 1927 konnten Reichswehrministerium und militärische Führung fortab frei von internationaler Kontrolle agieren. Geheime Projekte konnten nun offiziell und selbstbewusst realisiert werden.
Die heimliche Rüstung war jedoch nicht unbemerkt geblieben. In ihrem Abschlussbericht nannte die Kommission die zahlreichen Verstöße der Reichswehr gegen den Friedensvertrag, so die Existenz von Zeitfreiwilligen, die Aufstellung von Reservekadern und das Weiterbestehen des Generalstabes. Der britische Brigadegeneral John H. Morgan, Vertreter der Interalliierten Militärkommission in Berlin, wies in einem Brief an das Verteidigungsministerium in London vom Juni 1922 darauf hin, dass die deutschen Militärs Pläne ausarbeiteten, nach denen die Reichswehr als Nukleus für eine größere Armee dienen sollte, mit der ein Revanchekrieg geführt werden konnte. Der Aufbau der so genannten »Schwarzen Reichswehr«, einer geheimen Ersatzarmee, die aus Einwohnerwehren, Freikorps und nicht aufgelösten Verbänden der Kaiserlichen Armee bestand, wurde von der Kontrollkommission ebenso mit Misstrauen betrachtet wie die geheime Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee.
Der politische Widerstand aus dem Ausland verstärkte die Aggressivität der politischen Reaktion, die ihre Wut nun an den Pazifisten ausließ, die alle Formen der illegalen Rüstung in ihren Zeitungen enthüllten und in Eingaben an Regierung und Reichstag öffentlich kritisierten. Die Antwort waren wiederholte Verbote pazifistischer Zeitschriften und eine Vielzahl von Verfahren wegen Landesverrat: Musste der Vorsitzende der Deutschen Friedensgesellschaft, Ludwig Quidde (Friedensnobelpreis 1927), 1924 nach heftigen Protesten des Auslandes noch freigelassen werden, wurden Carl von Ossietzky und Walter Kreiser wegen Landesverrats und Verrats militärischer Geheimnisse im November 1931 zu je 18 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Die Rede des SPD-Politikers Philipp Scheidemann vor dem Reichstag am 16. Dezember 1926, in der er Ein­zel­heiten über die Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee enthüllte, verursachte einen Skandal und verstärkte das Misstrauen der Kritiker Deutschlands in Europa. Jahrelang hatte die Reichswehr die Kontrollkommission getäuscht und in Zusammenarbeit mit der Roten Armee neue Waffensysteme erprobt.
Im Jahre 1925 wurde in Lipezk am Woronesch eine geheime Fliegerschule und Erprobungsstätte der Reichswehr errichtet. Geführt wurde die Schule von der Inspektion Nr. 1 des Wehramtes, das dem Chef der Heeresleitung unterstand. In Lipezk wurden anfangs Flugzeugführer und Beobachter, ab 1931 auch Jagdflieger ausgebildet. 1926 begannen die Deutschen mit dem Aufbau der Panzerschule »Kama« in Kasan sowie einer Erprobungsstätte für die Anwendung chemischer Kampfstoffe bei der Artillerie und Luftwaffe im Objekt »Tomka« an der Wolga. In einer Unterredung im Jahre 1929 zwischen Kliment Jefremowitsch Woroschilow, Mitglied des Politbüros der KPdSU und Volkskommissar für Verteidigung, sowie Vertretern der Reichswehr, General Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord und Oberst Erich Kühlenthal, äußerten beide Seiten ihre Zufriedenheit über die Zusammenarbeit in den Einrichtungen in Lipzek, Kasan und Tomka und erörterten Möglichkeiten der Ausweitung sowie Fortsetzung der militärischen Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verschlechterten sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern, nicht zuletzt durch die zunehmend antisowjetische Propaganda des nationalsozialistischen Regimes. So wurden im Laufe des Jahres 1933 alle drei Erprobungsstätten aufgelöst.
Zu diesem Zeitpunkt waren die Kriegsvorbereitungen auf deutscher Seite bereits in vollem Gange. Mit dem Abzug der Interalliierten Kon­trollkommission 1927 begann die geheime Rüstung auch auf politischer Ebene ein offenes Geheimnis zu werden. Die sozialdemokratische Opposition im Reichstag versuchte den durch die Reichsregierung verfolgten Kurs der »Wehrhaftmachung« zu verhindern, als sie im April 1927 den Etat wegen der enormen Rüstungsausgaben von 700 Millionen Reichsmark ablehnte. Einen Monat später begann die Reichswehrführung, das offizielle Rüstungsprogramm in die Tat umzusetzen. Deutschland befand sich auf dem Weg in einen Militärstaat, zu dessen Vollendung der militärischen Führungsspitze Hitlers Machtübernahme hoch willkommen war. Am 3. Februar 1933 machte Hitler seinen Antrittsbesuch bei der Reichswehrführung im Bendlerblock, bereitwillig schloss die Wehrmacht das Bündnis mit dem Nationalsozialismus und bekräftigte ihn am 2. August 1934 mit dem Eid auf Adolf Hitler, Führer des Deutschen Reiches und Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Bis 1945 leisteten über 18 Millionen deutsche Wehrpflichtige den Treueeid auf den »Führer«.
Bis Kriegsbeginn unterstützte die Führung der Wehrmacht Hitler bei der Vorbereitung seines Krieges gegen die europäischen Staaten, zumal die Logistik des künftigen Krieges, einschließlich der Angriffsplanungen im Westen und Osten, bereits ausgearbeitet in den Schubladen lag. Auch der Vierjahresplan von 1936, mit dem der Umbau der Wehrmacht zu einer Angriffsarmee realisiert und Deutschland innerhalb von vier Jahren kriegsfähig gemacht wurde, baute auf einem bereits bekannten Vorläufer auf. So taucht die in den geheimen Rüstungsplänen von 1923 bis 1925 anvisierte Zahl von 102 Divisionen wieder in einem auf den 6. Mai 1935 datierten Heeresplanungspapier auf, das in Folge zur Grundlage für den Vierjahresplan wurde.
Nicht nur bei den Kriegsvorbereitungen, auch bei der Einführung der antisemitischen Gesetzgebung der Nazis erwies sich die Wehrmachtsführung als besonders willfährig. Mit Erlass vom 28. Februar 1934 ordnete Reichswehrminister Werner von Blomberg die sinngemäße Anwendung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums auf Soldaten an. Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten, die nach den Bestimmungen dieses Gesetzes »nicht arisch« waren, wurden aus der Wehrmacht entlassen. Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, die Umsetzung des Gesetzes in der Wehrmacht mit allen ergänzenden Erlassen und das Wehrgesetz von 1935 hatten alle jüdischen Soldaten und schließlich auch die jüdischen Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges von Beruf und Rechten ausgeschlossen.

Traditionslinien
Der Gründung der Bundeswehr im Jahre 1955 waren heftige Diskussionen in der deutschen Bevölkerung vorausgegangen. Trat doch die Bundeswehr die Nachfolge der Wehrmacht an, einer Armee, mit der Deutschland seinen verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Völker Europas geführt hatte. Trotz eindeutiger Zäsur nach 1945 und der sorgfältigen Auswahl des militärischen Führungspersonals durch den »Personalgutachterausschuss« des Parlamentes wurde die Bundeswehr zwangs­läufig durch von der Wehrmacht übernommene »Aufbauhelfer« und Söhne der Tätergeneration mitgeprägt. Diese waren bis in unsere Zeit hinein nicht an einem radikalen Traditionsbruch mit der Wehrmacht interessiert, bedeutete ein radikaler Neuanfang doch das Eingeständnis einer wie auch immer definierten Mitschuld. Mit der zur Entlastung des eigenen Gewissens vorgenommenen Einengung der Perspektive auf die militärischen Einzelleistungen und Sekundärtugenden – Tapferkeit, Kameradschaft, Treue – konstruierten einige Bundeswehroffiziere eine ungebrochene Traditionskette.
In vielen Traditionsvereinen außerhalb der Bundeswehr wurde dieses verzerrte Geschichtsbild regelrecht zu einem neuen Brauchtum kultiviert und ermöglichte die vorgeblich apolitische, »ideologiefreie« Ehrung eindeutig »belasteter« Vorbilder aus der Wehrmacht. Mit der Organisationsphilosophie der »Inneren Führung«, einer Meisterleistung der Aufbaugeneration, konnten sich diese Offiziere nie identifizieren. Noch heute finden sich zahlreiche ehemalige militärische Spitzenkräfte, die in rechtslastigen Verlagen und Organisationen, so in der sich als »konservativ« bezeichnenden Staats- und Wirtschaftspolitischen Gesellschaft (SWG), auf einem derartigen Traditionsverständnis bestehen.
General a.D. Reinhard Günzel, bis November 2003 Kommandeur des Kommandos Spezialkräfte (KSK), verschrieb dem KSK gar die Tradition der durch Kriegsverbrechen belasteten Wehrmacht-Division Brandenburg. Damit nicht genug erklärte er: »Ein Offizier muss konservativ sein.« Diesen Konservativismus definierte er wie folgt: »Ich erwarte von meiner Truppe Disziplin wie bei den Spartanern, den Römern oder bei der Waffen-SS.« Glücklicherweise hat die Führung der Bundeswehr auf solche Ansätze eines antidemokratischen Traditionsverständnisses gerade in den letzten Jahren mit zielgerichteten ministeriellen Weisungen, Überprüfungen der Namenspatronen für Kasernen und einer Neufassung des »Traditionserlasses« reagiert.