Üüber die Selbstmordwelle bei der France Télécom

Die Schnauze voll

Eine Selbstmordwelle bei der France Télécom hat Regierung und Management aufgeschreckt. Die Ursachen zu bekämpfen, ist jedoch nicht geplant.

Es passierte mitten in der Besprechung: »Ich habe die Schnauze voll! Die Schnauze voll von euren Dummheiten«, rief der Mann seinen Vorgesetzten zu und rammte sich selbst ein Messer in die Brust. Was wie eine Szene aus einem Film über japanische Yakuza erscheinen könnte, ist die Realität der Arbeitswelt.
Yonnel Dervin heißt der 49jährige Techniker der France Télécom, der sich im ostfranzösischen Troyes die Stichverletzungen zufügte. Er überlebte mit erheblichen Verletzungen. Nach einer knappen Woche im Krankenhaus wurde er entlassen und äußerte sich Anfang vergangener Woche gegenüber der französischen Presse. Er habe seine Handlung zuvor geplant, erklärte er, und er bedauere sie nicht, »auch wenn der Körper verletzt ist«. Er habe es nicht mehr ausgehalten, weil man ihm in Besprechungen offen erklärte, dass er ungeachtet seines beruflichen Könnens einfach »zu nichts mehr nütze« sei.

Die Verzweiflungstat von Yonnel Dervin ist kein Einzelfall, vielmehr sind die Selbstmorde bei der französischen Telekom seit der vergangenen Woche zu einer regelrechten Staatsaffäre geworden. Auch wenn das Unternehmen seit 2004 privatisiert ist, war die Regierung genötigt, sich einzuschalten. Nachdem am Montag voriger Woche eine leitende Angestellte von France Télécom in Metz einen Selbstmord am Arbeitsplatz versucht und in der Mittagspause eine starke Überdosis Schlaftabletten eingenommen hatte, empfing Arbeits- und Sozialminister Xavier Darcos tags darauf den Generaldirektor des Unternehmens.
Didier Lombard musste dem Minister versprechen, sofortige Maßnahmen einzuleiten. In Zukunft sollen die Mitarbeiter psychologisch besser betreut werden, die Betriebsärzte werden beauftragt, bei Selbstmordgefährdung zu warnen, und es wird Hotlines geben, damit die Lohnabhängigen sich »aussprechen« können. Die Unternehmensleitung erklärte öffentlich, es müsse »vordringlich darum gehen, die Ansteckung zu verhindern«, als gehe es um die Schweinegrippe. Die linke Basisgewerkschaft Sud führte ein Die-in vor dem Unternehmenssitz auf und forderte: »Stoppt das Massaker«.

23 Lohnabhängige haben sich bei der französischen Telekom in den vergangenen anderthalb Jahren am Arbeitsplatz das Leben genommen. Dies sei ein historisch völlig unbekanntes Phänomen, meint der Arbeitspsychologe Christophe Dejours. Erst seit Ende der neunziger Jahre erlebe man überhaupt, dass Menschen sich unmittelbar am Arbeitsplatz umbringen. »Wenn sich jemand in einem Wald aufhängen geht«, meint Dejours, »dann kann man über das Ursachenbündel diskutieren. Aber wenn er es am Arbeitsplatz tut, dann drängt sich der Zusammenhang mit dem Arbeitsleben unübersehbar auf.«
In vielen Fällen hinterließen jene, die Suizid verübte, auch eindeutige Nachrichten. Der Télécom-Mitarbeiter Michel Deparis, der sich im Juli in Marseille das Leben nahm, schrieb in einem Abschiedsbrief, es sei »unnötig, anderswo als in meinem Arbeitsleben bei France Télécom nach Ursachen zu suchen«. Er fühlte sich immer mehr in die Konkurrenz zu anderen Lohnabhängigen getrieben, etwa durch die individuellen Leistungsbeurteilungen, die zunehmend in Mode kommen. Von ihnen hängen Lohnbestandteile wie etwa Prämien ab, aber sie bestimmen mitunter auch das Kündigungsrisiko. Überdies fördern sie Konkurrenzverhalten und Mobbing, denn es ist hilfreich, nicht allein sich selbst in ein gutes, sondern auch die Kollegen in ein schlechtes Licht zu rücken.

Die französische Telekom hatte 160 000 Mitarbeiter, bevor 1996 ihre Privatisierung beschlossen wurde. Derzeit sind es noch 102 000, obwohl zusätzlich zu den Festnetzanschlüssen nun auch noch Handys und Internetzugänge betreut werden müssen. Zudem wurden viele Arbeitsbereiche umstrukturiert, 60 000 Beschäftigte mussten bisher, oft unfreiwillig, den Beruf wechseln. Entsprechend wuchs der Druck auf allen Ebenen.
Und nicht nur bei der France Télécom. Ein Bericht der Tageszeitung L’Humanité vom Montag belegt, dass die Suizidrate unter Staatsbediensteten im Umwelt- und Energieministerium stark angestiegen ist. Verantwortlich sei auch hier wachsender Leistungsdruck, verbunden mit der zunehmenden Vereinzelung der Beschäftigten. Ein Gesetz vom August lässt nun auch unter Staatsbediensteten die Angst vor Arbeitslosigkeit wachsen. Sie genossen bislang eine Jobgarantie, doch wer dreimal eine Versetzung ablehnt, die mit einem Umzug verbunden ist, kann in Zukunft hinausgeworfen werden.