Europa, ein Jahr mit der Krise

Nach der Krise ist vor der Krise

Während die Europäische Union das Ende der Rezession verkündet und für die unmittelbare Zukunft sogar Wachstumsprognosen wagt, sind die meisten Mitgliedsstaaten, insbesondere in Osteuropa, noch mit den schweren Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise beschäftigt.

Es gibt sie noch, die gute Nachricht. Kurz vor Beginn des G20-Gipfels, der Ende dieser Woche in Pittsburgh im US-amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania stattfindet, verkündete EU-Wirtschaftskommissar Joaquin Almunia das Ende der Rezession in Europa. »Heute kann ich zum ersten Mal seit Beginn der Krise eine Prognose mit etwas Optimismus abgeben«, sagte er vergangene Woche in Brüssel. Er erwarte für die letzten drei Monate des Jahres ein leichtes Wachstum von immerhin 0,2 Prozent.
Gestärkt von der Aussicht auf den leichten Konjunkturaufschwung haben sich die EU-Regierungschefs in Pittsburgh einiges vorgenommen. So sollen die Boni-Zahlungen an Manager begrenzt und der internationale Geldmarkt soll stärker reguliert werden. »Kein Finanzplatz, keine Institution, kein Finanzprodukt darf ungeregelt weiter existieren«, forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Politik müsse dafür sorgen, dass Staaten von Großbanken nicht erpresst werden können, wie dies zuletzt der Fall gewesen sei.
Doch während sich auf dem Gipfel fast alles darum drehen soll, wie künftige ökonomische Katastrophen vermieden werden können, sind die meisten EU-Staaten noch mit den Folgen der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise beschäftigt. Ein Ende ist nicht absehbar.
So wie in Lettland. Dort schloss Ende August das größte Krankenhaus des Landes, das Rgas Pirma Slimnca (Hospital Nummer eins) in Riga. Rund 570 Angestellte wurden entlassen. Über der Hälfte der 56 Krankenhäuser des Landes droht ein ähnliches Schicksal – der Staat kann ihren Betrieb einfach nicht mehr finanzieren. Um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden, musste Lettland im vergangenen Jahr insgesamt 7,5 Milliarden Euro Kredit von der Europäischen Union und dem Internationalen Währungsfonds aufnehmen, was damals rund einem Drittel des ­gesamten Bruttoinlandsprodukts (BIP) entsprach. Der kleinen Republik, die sich noch vor kurzem gerne als »baltischer Tiger« bezeichnete, geht es nicht gut.
Das Geld erhielt die lettische Regierung nur unter rigiden Sparauflagen. Als sie diese Vorgaben trotz aller Anstrengungen nicht einhalten konnte, sperrte der IWF im März weitere Auszahlungen. Wenig später gingen im Hospital Nummer eins die Lichter aus. Und nicht nur dort. Der Staat weist den Krankenhäusern eine bestimmte Quote von Operationen pro Monat zu. Ist dieses Kontingent erschöpft, soll nicht mehr operiert werden. Seit Juli sind alle Herz- und Gefäßoperationen gestoppt, soweit sie nicht zur Behebung eines lebensbedrohlichen Zustands zwingend sind. Ebenso wie alle Knie- und Hüftgelenkoperationen. Es sei denn, man ist bereit, 10 000 Euro selbst zu zahlen.

Lettland ist unter allen EU-Staaten am härtesten von der Wirtschaftskrise betroffen. Um rund 18 Prozent geht in diesem Jahr voraussichtlich das Bruttoinlandsprodukt zurück. In den anderen ehemaligen »Tigerstaaten« Litauen und Estland sieht es nicht viel besser aus. In beiden Ländern nahm die Wirtschaftsleistung rapide ab, während die Regierungen gleichzeitig enorme Kredite aufnehmen mussten.
Ähnlich wie in Lettland ist auch Ungarn in diesem Jahr nur knapp dem Staatsbankrott entkommen. Mit Hilfe eines Notfallkredits in Höhe von 20 Milliarden Euro vom Internationalen Währungsfonds und der EU konnte der finanzielle Kollaps zwar noch verhindert werden. Doch jetzt müssen die Schulden abgetragen werden, wie sich vergangene Woche bei der Debatte um den nächsten Haushalt zeigte. Demnach will die Regierung für den öffentlichen Verkehr rund 150 Millionen Euro weniger ausgeben – was bedeutet, dass zahlreiche Bus- und Bahnverbindungen eingestellt werden. Die Kommunalverwaltungen müssen mit 20 Prozent weniger Mitteln auskommen, weshalb die Gemeinden Schulspeisungen und das Fach Kunsterziehung streichen. Drastische Kürzungen gibt es auch im Bereich Arbeit und Soziales und bei den Renten. Die konservative Opposition sprach im Parlament in Budapest von »brutalen Kürzungen«, eine Alternative hatte sie allerdings auch nicht anzubieten.
Hohe Erwartungen verbanden sich in Rumänien vor knapp zwei Jahren mit dem EU-Beitritt. In den alten Mitgliedsländern fürchteten hingegen viele eine neue Billigkonkurrenz. Die Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, als im Sommer 2008 der finnische Nokia-Konzern seine Produktion von Bochum nach Cluj-Napoca in Transsilvanien verlagerte. Zwölf Millionen Euro investierte die rumänische Regierung auf dem Industriegelände, Nokia versprach dafür 4 000 neue Arbeitsplätze in der aufstrebenden Universitätsstadt.
Aus diesen Plänen ist nichts geworden. Wegen der Wirtschaftskrise hat der finnische Konzern seine Pläne drastisch reduziert. »Nur eine Fertigungshalle steht da, in der etwa 1 400 Angestellte, darunter viele frühere Textilarbeiterinnen, importierte Teile zusammensetzen. Der Monatslohn liegt bei durchschnittlich 250 Euro«, berichtete die Süddeutsche Zeitung. Arbeiter, die als Putzkräfte in dem Werk arbeiten, verdienen umgerechnet sogar nur 166 Euro im Monat, weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Netto-Lohns. Um die Transportkosten für die Arbeiter aus den umliegenden Dörfern zu senken, hat Nokia zudem die Schichten verlängert. Diese dauern jetzt zwölf statt wie bisher acht Stunden.

Von den Problemen in Osteuropa wähnte sich Spanien bis vor wenigen Monaten nicht nur geografisch weit entfernt. Als mit der Pleite der Lehman Brothers im Herbst vergangenen Jahres die Wirtschaftskrise eskalierte, beruhigte Finanzminister Pedro Solbes die Bevölkerung. »Spanien wird niemals eine vergleichbare Krise wie derzeit die Vereinigten Staaten durchleben«, erklärte er damals zuversichtlich.
Tatsächlich kommt alles noch viel schlimmer. Aufsehen erregte kürzlich eine Demonstration in Barcelona, als eine Trauergemeinde Toilettenschüsseln der Marke Roca durch die Innenstadt trug. Das traditionsreiche spanische Unternehmen, das Sanitäranlagen aller Art herstellt, ist von der Rezession besonders hart betroffen. Wegen der Krise im Immobiliensektor werden in diesem Jahr nur 150 000 Wohnungen in Spanien gebaut. Noch vor zwei Jahren waren es mehr als viermal soviel. Entsprechend sank der Bedarf an Toilettenschüsseln und Badewannen. Nun will Roca jeden dritten Mitarbeiter entlassen, weshalb die Belegschaft in Barcelona demonstrierte.
So wie Roca geht es vielen spanischen Unternehmen. In diesem Jahr verloren bereits 1,3 Millionen Menschen ihren Job. Mit einer Arbeitslosenquote von 18 Prozent nimmt das Land den letzten Platz in der EU-Statistik ein.
Immerhin steht Spanien mit dem Problem nicht alleine da. So hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vorige Woche verkündet, dass in den vergangenen zwei Jahren in den westlichen Industrienationen 15 Millionen Jobs gestrichen wurden. Im kommenden Jahr sollen weitere zehn Millionen folgen. Die Arbeitslosenquote liegt dann bei zehn Prozent – der höchste Stand in der Nachkriegszeit. In Deutschland wird die Quote nach Schätzung der OECD im kommenden Jahr auf rund zwölf Prozent, die Arbeitslosenzahl auf rund fünf Millionen steigen. Das ist aber immer noch gut im Vergleich zu Spanien. Dort erwartet Arbeitsminister Celestino Corbacho mittlerweile eine Quote von 20 Prozent.
Verhältnismäßig glimpflich erscheinen hingegen auf den ersten Blick die Zahlen für Großbritannien. Doch mit rund acht Prozent haben sich dort die Arbeitslosenzahlen in kurzer Zeit sogar verdoppelt. Vor allem aber bereitet der britischen Regierung das gewaltige Haushaltsdefizit Kopfzerbrechen. In den kommenden Jahren wird die Verschuldung des Landes von 800 Milliarden auf 1,55 Billionen Euro steigen. Um das marode Bankensystem zu stützen, hatte die Regierung enorme Summen ausgegeben, hinzu kamen teure Konjunkturprogramme.
Nun sitzt sie in der Falle. Schon allein wegen den zusätzlich anfallenden Zinsen ist sie gezwungen, öffentliche Ausgaben zu senken und Steuern zu erhöhen – was wiederum einen baldigen Wirtschaftsaufschwung unwahrscheinlich macht. Dabei warnen Rating-Agenturen schon seit geraumer Zeit, dass Großbritannien wegen der gigantischen Staatsverschuldung seine Top-Bewertung verlieren könnte. Wenn es dazu kommt, befindet sich das Land bald in einer ähnlichen Lage wie Ungarn oder Lettland zu Beginn des Jahres.
Nach der Krise ist vor der Krise: Mit den Folgen können sich Bundeskanzlerin Merkel und ihre Kollegen vermutlich schon bald beschäftigen – auf dem übernächsten Gipfeltreffen.