Ein Besuch auf dem Oktoberfest

»Love Parade war gestern«

Journalisten in Dirndl und Lederhosen, ein bisschen Wahlkampf und die weltbekannte »German hospitality«. Ein Besuch beim Oktoberfest.

Schwere Wolken hängen über München. Es herrscht reges Treiben auf der Theresienwiese zwei Tage vor dem offiziellen Beginn des 176. Oktoberfests, und niemand scheint Zeit zu haben, um bei der Suche nach einem Schaustellergeschäft namens »Revue der Illusionen« zu helfen. Die Suche wird ein wenig schmerzhaft. Ein grüner Mitsubishi Pajero rauscht vorbei, sein riesiger gelber Anhänger touchiert meine linke Schulter, was für einen ansehnlichen blauen Fleck in der Größe einer Honigmelone reicht. Der Fahrer fährt weiter, als wäre nichts passiert. Ihn trifft ja auch keine Schuld. Vielmehr ist das Tourismus­amt München schuld. Denn wer außer der Marketingabteilung der bayrischen Landeshauptstadt kommt schon auf die Idee, zwei Tage vor Beginn der Wiesn eine Horde von Journalisten beim Presse­rundgang über das Gelände zu lotsen, während meist osteuropäische Arbeiter noch mitten im Aufbaustress sind?

Vor der »Revue der Illusionen« stehen an die 80 Journalisten mit Blöcken, Kameras und Mikrofonen. Viele junge Reporterinnen tragen Dirndl und einige ihrer männlichen Kollegen eine kurze Lederhose. Eigentlich lassen sich hier während des Oktoberfests Freaks wie »die Frau ohne Unterleib« gegen Bezahlung angaffen. Aber heute dient das alteingesessene Geschäft als Bühne für Oberbürgermeister Christian Ude und die Leiterin des Tourismusamts, Gabriele Weißhäupl. Die Fotografen haben sich bereits positioniert und beanspruchen die vorderen Reihen ganz für sich. Es dauert ein wenig, bis ich auch einen Platz ergattert habe, von dem aus die zwei auf der Empore zu sehen sind. Ude nennt die »Revue der Illusionen« einen »zum Wahlkampf passenden Ort«. Der Witz ist so schal, dass man fast wieder darüber lachen kann. Die Wiesn-Stiftung verteilt herzförmige »Schecks« »für soziales Engagement«. Praktischerweise ist der Leiter dieser Stiftung, Harald Strötgen, Vorstandsvorsitzender der Sparkasse München. »Ein bisschen mehr Applaus«, ermahnt Weißhäupl die etwas teilnahmslos wirkenden Journalisten. Darauf soll die große Überraschung folgen, so behauptet es zumindest der Oberbürgermeister. »Auch wenn wir noch nichts über die Planung des Jubiläums im nächsten Jahr gesagt haben, sind bereits die Vorbereitungen im Gange«, sagt das Stadtoberhaupt. Denn das Oktoberfest 2010 wird für einen Oberbayern im Trachtengewand etwas ganz Besonderes. Dann ist es 200 Jahre her, dass die Hochzeit von Ludwig I. und Therese von Sachsen-Hildburghausen, die den Ursprung dieses Volksfests markiert, stattgefunden hat. Eine fünftägige Feier mit Schützengarden und Militärparaden, Mädchen und Jungen, die Blumen verteilten, folgte dieser Vermählung. »Unter dem gesamtdeutschen Motto ›Bayer heiratet Sächsin‹ werden sich nächstes Jahr fünf solcher Paare das Ja-Wort geben«, sagt Ude und verkündet stolz, persönlich den Standesbeamten zu geben.
Die nächste Station des Programms ist das High-Tech-Karussell namens »Techno-Power«. Hier ist DJ Flash der Star, »der DJ, der heiße Rhythmen auflegt«, sagt Gabriele Weißhäupl über den Mann mit der schwarzen, ledernen Schiebermütze, unter der dunkle Locken hervorquellen. Wie sie da steht in ihrem grünen Dirndl, der akkurat frisierten Steckfrisur und dem dick aufgetragenen Make-up, hat es fast den Anschein, dass sie mit »heißen Rhythmen« Lambada, den verbotenen Tanz, meint. Der Fahrgeschäftbetreiber Manfred Eckl und der DJ kennen sich aus den achtziger Jahren. »Damals haben wir schon in Discos aufgelegt«, sagt Eckl. Einen Tag später ist in der Münchner Boulevardzeitung TZ dann folgende Zusammenfassung über das sich wild drehende Karussell zu lesen: »Love Parade war gestern, heute ist Techno Power. Der DJ an der Musiktheke dieses Highspeed-Karussells legt die angesagtesten Hits auf, die über ein eigens entwickeltes Sound-System den Geschwindigkeitsrausch der Volksfest-Raver auf die Spitze treiben.«
Bei der nächsten Station des Presserundgangs geht es um kurz vor zwölf an die ersten alkoholischen Getränke. Es gibt reichlich Weißbier und Sekt, keiner hält sich zurück. Dazu gibt es noch ein riesiges Lebkuchenherz und ein paar Schwätzchen unter Kollegen.

Wieso wird hier wegen einer Kirmes so ein Staatsakt veranstaltet, frage ich Christian Ude. Er schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Das Oktoberfest ist nun mal weltbekannt. Bis in den hintersten Winkel Alaskas und bis nach Japan weiß man über das Fest Bescheid«, sagt der Mann, der nun seit 16 Jahren Oberbürgermeister Münchens ist. Das Fest sei das Münchner Wahrzeichen, und eigentlich sei es nicht nur ein Bierzeltfest, sondern schon ein Spaziergang über das Gelände mit seiner überwältigenden Atmosphäre sei für jung und alt ein Erlebnis. Dass aber das Bier den Besuchern, ob jung oder alt, oft zu gut schmeckt und sie eher vom Alkohol überwältigt werden als von den vielen blinkenden Lichtern der Schaustellerbuden, lässt Ude nicht gelten. »Das sind erschütternde Entgleisungen, die für die meisten Besucher nicht zutreffen«, sagt er an diesem verregneten Donnerstag, zwei Tage bevor er einer grölenden Menge mit den Worten »O’zapft is’« den Startschuss zum Biertrinken gibt.
Bei der nächsten Station gibt es Weißwürste. Und erneut Bier. Edmund Ratlinger ist für die Familienfläche zuständig, einen Platz mit Holzplanken auf dem Boden, einem Kinderspielplatz und einer erhöhten Theke. »Immer stärker an die Kleinen angebunden«; »Wir bieten Wickelstationen mit Inventar«; »Ich kann Ihnen voller Stolz verkünden, dass es bei mir jeden Tag Weißwürstl für nur 99 Cent das Stück gibt.« Trotz des Lärms ist Ratlinger gut vernehmbar. Er ist ein stämmiger Mann mit hochrotem Kopf, einer goldgerahmten Brille auf der breiten Nase und der Ausdauer eines Hamburger Fischmarktverkäufers, wenn er seinen Stand preist.
Zu den Klängen zweier Alphörner vor einem doppelstöckigen Holzhaus namens »Wildstuben« endet der offizielle Teil des Rundgangs. Danach wird schon wieder gegessen. Erster Gang: eine kalte Platte mit Speck, Schinken, Salami und Rettich, dazu gibt es Bier aus Ein-Liter-Krügen. Neben mir sitzen die Musiker der Wildstuben, die während des Fests zünftig aufspielen werden und eben an den Alphörnern standen. Die Oberallgäu-Musikanten unterhalten sich über die Juniorchefin der mobilen Gaststätte. »Mei, die is scho fesch«, sagt Michl Berktold, und sein Partner Hans-Jörg Zeller antwortet: »Joa, die is noch alleinstehend. Knack, knack.« Dabei haut er mit der flachen Hand auf seine Faust. Sie kommen gerade von einem Auftritt aus Milwaukee. »Da gibt’s sogar Paulaner Weißbier. Verrückt!« sagt Zeller und ergänzt: »Oktoberfest ist schon so was wie Disneyland. Wurde quasi in die ganze Welt verkauft.« Weißhäupl begrüßt derweil Freemann Tang aus China. Der ist dort verantwortlich für das größte Oktoberfest der Volksrepublik und erhält dafür als Dankeschön einen bayrischen Hut aus Filz in Grau mit blauweißer Banderole. Als der zweite Gang auf­getischt wird – Rehrücken, Semmelknödel und frische Preiselbeeren –, gesellt sich Peter Wohlfeil dazu, ein weiterer Musiker. Er zeigt seine neue CD. Die Lieder tragen Titel wie »Ich bloab immer bei dir« oder »Schoa wieder muss i foart«. Er ist einer der Marke Rampensau. Wohlfeil bestellt ein Bier und zieht dabei die junge Bedienung aus Erfurt an ihrem Oberarm zu sich heran. Sie kennen sich aus Luxemburg, da stand das Klischee-Holzhaus mit Hirschgeweihen über jedem Tisch auf einer Messe.
In zwei Containern hinter dem mobilen Wirtshaus befinden sich die Toiletten. Davor sitzt eine Frau auf einem Klappstuhl in Deutschlandfarben. Sie nennt sich selbst »Walli«, da sie aus Angst vor ihrem Arbeitgeber, einer Cateringfirma aus Bremen, ihren richtigen Namen nicht nennen will. Walli kommt aus Castrop-Rauxel und ist zum ersten Mal auf der Wiesn. »Ein bisschen mulmig ist mir schon. Was man sich hier alles so über die Besoffenen erzählt«, sagt sie und lacht ein wenig unsicher. Aber es gebe ja schließlich gutes Geld. »Du musst dir unbedingt die Wiese anschauen, auf der die ganzen vollgekotzten Alkoholleichen liegen«, sagt ein Reporter von Radio M 94,5.

Zwei Tage später setzt Christian Ude um Punkt 10 Uhr zum 13. Mal den Holzhammer zum Bierfass-Anstich an. Die Menge lauert schon. Viele sind schon seit 8 Uhr auf den Beinen, um einen Platz im Zelt zu ergattern. Zwei Schläge, und der Oberbürgermeister hat wieder einmal, ohne etwas danebenkleckern zu lassen, eins der Bierfässer geöffnet. »Ein Prosit, ein Prosit, ein Pro-osit« spielt die Kapelle, und die auf den Tischen stehende Menge grölt, klatscht im Viervierteltakt oder schwenkt ihre Bierkrüge. Das Lied wird jede Stunde mindestens einmal gespielt. Egal ob man sich im Festzelt der Fischer-Vroni, im Schottenhammel oder im Augustiner-Bräu aufhält: Es gibt kein Entrinnen vor dieser Melodie. An einem Bierstand vor dem Eingang zur Wiesn stehen zwei Mädchen in Dirndl und unterhalten sich mit ihren Flip-Flops tragenden männlichen Begleitern, die einen blauweißen Maßkrug aus Plüsch auf dem Kopf tragen. Sie reden Englisch. Die zwei jungen Frauen waren zwei Jahre lang in Australien und möchten sich bei ihren Freunden für die Gastfreundschaft revanchieren. Britta kommt eigentlich aus Düsseldorf. Sie sagt über das Bild der Deutschen in Australien: »Fleiß, Bier und Oktoberfest, das sind die Stichworte, mit denen Deutschland verbunden ist.« Einer ihrer Begleiter, Wade Fortato aus Sydney, findet aber auch noch etwas ganz anderes interessant: »German Girls with these dresses on. Amazing.«
Olaf ist anderer Meinung: »Das ist völlig pervers«, sagt er, »die Besoffenen sind eklig, und alles ist zu teuer.« Der gebürtige Sachse kam 1981 nach München, er ist nicht zum Vergnügen hier: Er dreht nun Würstchen und gibt das Flaschenbier an dem Imbissstand vor dem Oktoberfest aus. Schon lange haben er und seine Familie das Spektakel nicht mehr besucht. »Früher reichten 100 Mark, um mit den Kindern Achterbahn zu fahren und mit meiner Frau eine Maß zu trinken«, erzählt er. »Heute geht es nicht mehr unter 250 Euro.«

Im Festzelt Schottenhammel suche ich nach einem Platz, der nicht mit Bier vollgeschüttet ist und auf dem keine Menschen tanzen. Es ist ein schwieriges Unterfangen. Doch dann entdecke ich die Loge einiger Studentenverbindungen. Ein Mitglied vom Corps Hubertia erklärt, dass die anwesenden Corps und schlagenden Verbindungen ja keine Nazis seien. »Wir sind halt hundertprozentig tolerant gegenüber jedem«, sagt der Mann freundlich und schon ein wenig lallend. »Da kann man sich halt auch nicht von den Burschenschaften, die ja sehr rechts stehen, abgrenzen«, sagt er noch und fragt, ob ich denn schon in einer Verbindung sei. Ich verneine, er gibt ein Bier aus und will mal darüber reden. Als er ein wenig später merkt, dass ich alles in einen Notizblock schreibe, werde ich höflich an den Schultern gepackt und aus der Loge befördert.
Der nächste Besuch einer Loge gestaltet sich angenehmer. Steve ist Kanadier und betreibt eine IT-Firma in Toronto. Er ist von Siemens eingeladen worden, die German hospitality« kennen zu lernen. Er sei mittlerweile 60, erzählt er, und er habe früher ja eigentlich die Stones, Jimi Hendrix und Joe Cocker gehört. Er lädt mich ein, den 40 Kanadiern im Hofbräu-Festzelt Gesellschaft zu leisten. Nach ein paar Fragen über das Besondere am Oktoberfest und der Frage danach, warum sie eigentlich alle hier sind, wird mir eine blonde Frau vorgestellt. Ein Kanadier mit dickem Bauch erklärt mir, sie habe das in die Wege geleitet, als kleines Dankeschön. Ihr Name ist Eva Horn. »Marketing-Spezialist« ist auf ihrer Karte zu lesen. Ihre Aussprache ist bereits ein wenig verwaschen. Ihr Dirndl habe sie von den Kanadiern geschenkt bekommen, alles sei furchtbar nett hier. »Sie sollen hier Spaß haben und die deutsche Gastfreundschaft kennen lernen«, sagt sie noch und kippt von der Bank.
In den riesigen Zelten hängen Tücher in Blau und Weiß von den Theken. In oder vor den Zelten drehen sich riesige Puppen aus Plastik und werden von einem rosa Licht angestrahlt. Alte Männer schauen lüstern auf junge Frauen im Dirndl. Andere liegen im Delirium auf dem »Abscheißerhügel«, einer Wiese, die über die Hintereingänge der großen Zelte zu erreichen ist. Hier und da klammern sich Menschen an Holzabsperrungen und übergeben sich. Die, die gar nicht mehr können, hocken irgendwo in dunklen Ecken und brabbeln unverständlich vor sich hin. Hühnerknochen liegen auf den Straßen der Wiesn.
Abends um 22 Uhr ist Schluss. Die Menschenmassen, die um diese Zeit die Zelte verlassen, sind vermutlich kaum mit der Frage beschäftigt, ob die Deutschen wirklich gastfreundlich sind oder einfach nur Bier trinkende Langweiler, die auf Festen schlechte Musik spielen und damit auch noch eine Menge Geld verdienen.