Über den Philosophen Julien Offray de La Mettrie

Der konsequente Hedonist

Julien Offray de La Mettrie, der vor 300 Jahren geboren wurde, gilt als Begründer eines mechanistischen Weltbildes. Tatsächlich war er ein Ahne des historischen Materialismus und hat einen Begriff diesseitigen Glücks vertreten, dessen Radikalität unübertroffen ist.

Nicht wenige Philosophen verdanken ihre Prominenz einem Missverständnis. Nietzsches Lehre vom »Willen zur Macht« stammt weniger aus seinen Texten als aus den Fälschungsversuchen seiner Schwester, die verschiedene Nachlassfragmente zu einem Buch mit diesem Titel zusammenfasste. Dieses posthume »Hauptwerk« lieferte den Nazis jene Stichworte, die Nietzsche ihnen verweigert hätte. Der schlechte Ruf Georges Batailles in linken Kreisen beruht vor allem auf den verzerrenden Lektüren seiner kryptofaschistischen Adepten, und was seit Marx aus dem Begriff der Ideologiekritik geworden ist, spottet jeder Beschreibung.
Einer ähnlichen Wahrnehmung ist es geschuldet, dass der Philosoph Julien Offray de La Mettrie, dessen Werk anthropologische, politische, medizinkritische und satirische Schriften umfasst, lediglich durch ein einziges Buch bekannt geworden ist. Mit der Schrift »L’ Homme machine«, die im Herbst 1747 anonym im Verlag Elie Luzac im holländischen Leiden erscheinen musste, weil sie in Frankreich verboten worden wäre, ist er als »mechanistischer Materialist« in das Schwarzbuch der Philosophiegeschichte eingegangen: ein »Hofatheist«, wie Voltaire ihn nannte, ein Prediger der Unmoral und Vordenker des Antihumanismus, der den Menschen in machiavellistischer Kaltschnäuzigkeit zum mechanischen Funktionsbündel reduziert und den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele verhöhnt habe.

Schon vor der Publikation des »L’Homme machine« hatte sich La Mettrie nicht nur bei den politisch Mächtigen in Frankreich unbeliebt gemacht, sondern auch die Verachtung der Enzy-klopädisten auf sich gezogen, die ihm in ihrem antidogmatischen Pathos doch eigentlich nahe standen. Für Voltaire war er schlicht ein »Wahnsinniger«, und Diderot wollte ihn als »einen in seinen Sitten und Anschauungen verdorbenen Menschen« aus der »Gemeinschaft der Philosophen« ausgeschlossen sehen. Obgleich der ma­terialistische Naturbegriff dem französischen Aufklärer La Mettrie viel verdankte, haben sie ihn allenfalls als jenen Hofnarren goutiert, zu dem er am Ende seines Lebens beinahe wirklich geworden wäre. 1709 im bretonischen St. Malo geboren, studierte er Philosophie und Medizin in Paris und Rennes und arbeitete zunächst als Landarzt. Unzufrieden mit der Rückschrittlichkeit und Vetternwirtschaft des heimischen Ärztestandes, ging er nach Holland, wo er Schüler des Mediziners Herman Boerhaave wurde, dessen Werke er ins Französische übersetzte und der ihn zur Niederschrift erster eigener Abhandlungen ermunterte. 1735 kehrte er nach St. Malo zurück, ließ sich als Arzt nieder und gründete eine Familie, ohne sich jedoch langfristig in einer bürgerlichen Existenz einrichten zu können.
Seine Satiren und Polemiken gegen die verbrecherischen Geschäftspraktiken und die Inkompetenz der Ärzte machten ihn zu einem Außen­seiter der Zunft. Als der Duc de Grammont, dessen Leibarzt er war und in dessen Regiment er als Sanitätsoffizier am österreichischen Erbfolgekrieg teilnahm, 1745 fiel, nahmen die Angriffe gegen La Mettrie existenzbedrohende Dimensionen an. 1746 wurden zwei seiner wichtigsten Schriften, die ein Jahr zuvor erschienene »Histoire naturelle de l’âme« und das ärztekritische Pamphlet »Politi­que du médecin de Machiavel«, gerichtlich verboten.
Obwohl sie anonym erschienen waren, wurde La Mettries Autorschaft bekannt, sodass er, ­seine Familie zurücklassend, in die Niederlande flüchtete, wo damals verbotene Bücher für ganz Europa gedruckt wurden und eine verlegerische Vorzensur unbekannt war. Dort publizierte er ­einige seiner bedeutendsten Arbeiten, darunter »L’Homme machine«, aber auch Satiren und Komödien, bis er dank der Vermittlung des französischen Naturwissenschaftlers Maupertuis als Leibarzt Friedrichs II. nach Preußen übersiedeln konnte. Hier wurde er Mitglied der Akademie der Wissenschaften und durfte weitgehend frei publizieren, galt jedoch als putziger Alleinunterhalter, auf dessen Gerede nichts weiter zu geben sei. 1751 starb er, gerade einmal 42 Jahre alt – angeblich an einer vergifteten Pastete.
Die Polemik gegen die Ärzteschaft, die sich durch alle Schriften La Mettries zieht, war kein Spleen und entsprang keiner undifferenzierten Wissenschaftskritik. Vielmehr führt sie ins Zen-trum seines Werks, das Unvernunft und Aberglauben ebenso attackiert wie den cartesianischen Rationalismus mit seiner Verachtung der Triebe und der Sinnlichkeit.
Die Formel vom »L’Homme machine«, deren Sinn in deutschen Übersetzungen nur unzureichend wiedergegeben werden kann, fasst diese Kritik zusammen: »Machine« bezeichnet im Französischen keinen bloßen Gegensatz zum lebendigen Organismus, sondern einen in sich geschlossenen, sinnvollen Funktionszusammenhang. La Mettrie verwendet den Begriff im Sinne einer dialektischen Aufhebung des Dualismus von Leib und Seele, wie er dem christlichen Menschenbild mit seiner Vorstellung vom Leib als »Kerker« der Seele und auch dem Rationalismus Descartes und dessen Fetischisierung des Logos zugrunde liegt. Die Annahme, dass der Mensch eine Maschine sei, erhebt sowohl Einspruch gegen die Erniedrigung des menschlichen Körpers im Namen der Reinheit der Seele wie auch gegen die Verherrlichung des Menschen als naturbeherrschendem Vernunftwesen. Sowohl im Christentum als auch im Rationalismus erkennt La Mettrie zwei gegenläufige, in ihrer Tendenz aber ähnliche Formen der Verleugnung von Leiblichkeit und innerweltlichem Glück. Dennoch verwirft er im Gegensatz zu den meisten selbsternannten Atheisten nicht den Seelenbegriff und gibt, anders als heutige postmoderne »Maschinentheoretiker«, die ihr Vokabu­lar von ihm borgen, den universalen Anspruch der Vernunft nicht preis, sondern führt beide zurück auf die gemeinsame materiale Grundlage, den menschlichen Leib und dessen Sinne: »Erkenntnisse über das Wesen des Menschen kann man nur a posteriori gewinnen, indem man den Zugang zur Seele gleichsam über die Organe des Körpers sucht«, heißt es programmatisch im »L’Homme machine«.

Seele und Vernunft sind La Mettrie zufolge keine immateriellen Prinzipien, sondern ebenso »Organe« des Menschen wie umgekehrt der menschliche Leib und die Sinne nur als »beseelte« und »begeisterte« ihre Aufgabe erfüllen können. Körperliches Leid, Schmerz und Grausamkeit zerstören daher nicht zuerst den Körper und zusätzlich den Geist, sondern mit und in dem Körper immer zugleich Seele und Vernunft. Umgekehrt verkümmert durch Austrocknung des Geistes die menschliche Sinnlichkeit. Dass La Mettrie diese Thesen fast durchweg an körperlichen und psychosomatischen Krankheiten und Leidensgeschichten einzelner Patienten illustriert, lässt ihn rückblickend als einen der frühesten Vordenker der Psychoanalyse erscheinen. Selbst Ansätze einer Traumanalyse und Studien über die Auswirkung von Rauschmitteln auf die Sinnes- und Erkenntnistätigkeit finden sich schon bei ihm. Den Schlaf hat er so eindringlich und schön wie kaum jemand zuvor beschrieben. Im »Halbschlaf«, so La Mettrie, könne der Mensch leibhaft erfahren, »dass die Seele zum Einschlafen nicht immer auf den Körper wartet«. Seele, Vernunft, Körper und die verschiedenen Sinne werden als autonome, in ihrer Autonomie sich aber auch ständig gegenseitig beeinflussende »Organe« aufgefasst, deren gelungene Synthesis La Mettrie völlig unmechanistisch »die ganze Maschine« nennt. Freud sollte dafür später den Namen »Ich« finden.
Erst »die ganze Maschine«, nicht ein einzelnes hypostasiertes »Organ«, ist La Mettrie zufolge fähig zur Wahrheitserkenntnis. Erkenntnis wird dabei vorgestellt als jener Prozess, in dem der Geist und die Sinne sich in der Erfüllung ihres Ziels an sich selbst erfreuen, mithin als durchaus somatische Erfahrung. Die »Freuden des Geistes«, heißt es in der Vorrede zum »L’Homme machine«, ähnelten den »Freuden der Sinne«, weil »man auch sie unterbrechen muss, um sie zu steigern, denn schließlich gibt es beim Studieren ebenso eine Ekstase wie beim Lieben. Sie ist, wenn ich es einmal so ausdrücken darf, eine Art Stillstand des Geistes, der von dem ihn fesselnden und betörenden Objekt derart berauscht ist, dass er meint, von seinem Körper und der Realität losgelöst zu sein. Er ist dann seinem Objekt ganz hingegeben und empfindet vor lauter Empfindung gar nichts mehr. Das ist sie, die Freude, die man beim Suchen und Finden der Wahrheit genießt.« Selten ist die »Freiheit zum Objekt«, wie Adorno dies später nennen sollte, die Fähigkeit also zum Aufbau unverkürzter Objektbeziehungen, so bezwingend beschrieben worden.

La Mettrie deshalb als Entdecker einer blinden kreatürlichen Kraft zu feiern, wie sich dies tendenziell bei seinem wichtigsten deutschen Übersetzer und Fürsprecher Bernd A. Laska beobachten lässt, für den La Mettrie neben Wilhelm Reich und Max Stirner zu den großen »Parias des Geistes« zählt, verkürzt dessen Begriff der Erkenntnis um das Moment des Innehaltens, der »Unterbrechung«, in welcher die »Hingabe« ans Objekt aufgehoben werden muss und in dem sich genau jener Zusammenhang von Sinnlichkeit und Reflexion artikuliert, von dem La Mettries reaktionäre Adepten so wenig wissen wollen wie seine rationalistischen Kritiker. Selbst La Mettries renommiertester zeitgenössischer Apologet, der Philosoph Panajotis Kondylis, der ihn in seiner Studie über »Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus« als »konsequenten Materialisten« gegenüber den französischen Aufklärern exponiert und in die Nähe des Marquis de Sade rückt, vereinnahmt ihn als Vertreter eines Nihilismus im Sinne Ernst Jüngers, mit dem La Mettrie, der durchaus Moralist gewesen ist, nichts gemein hat. Eher ließe er sich als konsequenter Hedonist bezeichnen: Was die selbsternannten Hedonisten der Neuzeit beharrlich verleugnen, dass nämlich ein emphatischer Begriff des Glücks immer zugleich negativ auf die Erfahrung von Schmerz und Leid bezogen sein muss, ist in La Mettries Schriften in jedem Augenblick präsent.
Insofern hat er auch als Autor jene Heilkunde zum Beruf gemacht, an deren Begrenztheiten er in seinem bürgerlichen Beruf fast irre geworden wäre. Dass er auf Nachruhm hoffte, ist nicht überliefert. Vielmehr sah er als notwendig an, »so zu schreiben, als wäre man allein auf der Welt und habe von den Vorurteilen und Gehässigkeiten der Menschen nichts zu fürchten«.