Über die Inkompetenz des Staates

Der Staat ohne Kompetenz

Nach dem Rücktritt Franz Josef Jungs wird weiter diskutiert, wer wann was gewusst hat. Was bedeuten die Geschehnisse um die Bombadierung von Tanklastern in Kunduz für das gegenwärtige Verhältnis von Staat und Gesellschaft?

Der Staat müsse so einfach sein, dass eine Köchin ihn führen könne, hat Lenin einst geschrieben, um eben den Staat in solchen Vereinfachungen seiner Aufgaben schließlich absterben zu lassen und in der kommunistischen Gesellschaft der freien Assoziation aufzuheben. In der Demokratie der realkapitalistischen Bundesrepublik sieht das anders aus: Da müssen die Staatsgeschäfte so eingerichtet werden, dass im Prinzip jeder Freiherr oder Volljurist aus gutem Hause zum Regieren geeignet scheint. Und das deutet nicht auf einen Staat, der mit Kompetenz regiert, sondern auf eine Krise der Regierung, samt ihrer Ideologie, die in einer strukturellen Inkompetenz des Staats ihren Ausdruck findet. Lenins Vision blieb unerfüllt.

Ausgestorben oder zumindest völlig unzeitgemäß ist der Typus des Berufspolitikers, und zwar weil beides, Beruf und Politik, obsolet geworden ist. Das Ende der Arbeitsgesellschaft greift dort, wo das ökonomische System der Arbeit alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdringt, schließlich auch auf die Verwaltungsstruktur der Gesellschaft über; Politik ist kein Handwerk mehr, und erst recht keine Sache der Revolution (wie es eben im 19. Jahrhundert fürs Bürgertum notwendig und selbstverständlich war und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für einen kurzen Augenblick menschheitsgeschichtlich möglich), sondern eine Option der Karriere. Damit steht aber die Demokratie, der als hehres Ideal des Kapitalismus der Kapitalismus sowieso permanent widerspricht, grundsätzlich auf dem Spiel. Der Parlamentarismus reduziert seine Idee der Freiheit auf das konsumistische Angebot, zwischen verschiedenen Volksvertretern wählen zu dürfen; wer da nicht mitmacht, gilt als Extremist.
Am Ende der parlamentarischen Demokratie restituieren sich bezeichnenderweise Spektakel feudaler Machtverhältnisse und vermischen sich mit den Derivaten des Management-Charakters, des Yuppies; die Inszenierungen von Karl-Theodor zu Guttenberg und seiner Adelsfamilie sind dafür Symptom und Ursache gleichermaßen. Überdies definiert eine Figur wie Guttenberg heute das, was Charisma und Persönlichkeit heißt. Und wenn man sich im Fall Kunduz auch noch einmal an den mittlerweile zur Binsenweisheit verselbstständigten Satz Carl von Clausewitz’ erinnern mag, dass der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, dann liefert gerade jemand wie Guttenberg den freimütigen Beweis seiner Gültigkeit und noch gleich den Grund dazu: Weil nämlich Krieg wie Politik die Fortsetzung der Ökonomie mit allen nur erdenklichen Mitteln sind. Die Bravour, mit der gerade in diesem Fall nunmehr die Auflösung des Staates in Betriebswirtschaft und eben auch betriebswirtschaftliche Schadensabwicklung demonstriert wird, stellt drastisch dar, wieweit mittlerweile Staat, Politik und Regierung selbst von der Krise erfasst sind, also ihre je speziellen Krisenerscheinungen der Gesamtkrise nicht mehr äußerlich bleiben.
Die Regierungskrise galt bisher als von der üblichen, ökonomischen Krise weitgehend unabhängiges Phänomen; in der Phase der Durchsetzung parlamentarischer Ordnung des Kapitalismus sind solche Krisen in der Regel mit so genannten Affären verbunden – von der »Dreyfus-Affäre« über die »Spiegel-Affäre«, von Willy Brandts Rücktritt nach der Agentenaffäre bis zu Clintons »Lewinsky-Affäre«. Der Skandal ist die öffentliche Figur dieser Krisen, die Intrige ihre politische Logik, die Korruption ihre schlimmste Form, die Denunziation die Lösung. Bei den gegenwärtigen Regierungskrisen ist es anders. So ist zunächst einmal auffällig, dass zwar ein politisch zu verantwortendes Massaker als Krise darstellt wird, aber nicht tatsächlich eine Regierungskrise nach sich zieht. Vielmehr werden die Ereignisse überschattet von einer allgemeinen Krise, namentlich der so genannten Finanzkrise. Und die Folgen von Kunduz zeitigen auch nicht wirklich politische Konsequenzen, sondern private, die in der Sprache der Ökonomie legitimiert werden. Von Krisenmanagement ist die Rede, was zugleich auf eine Managementkrise verweist: Der Staat als Unternehmen hat versagt. Und das Problem ist nicht etwa Korruption, sondern Inkompetenz.
Der Staat in der Krise steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Krise des Kapitalismus; und das nicht zuletzt auch deshalb, weil er – gerade in der Gestalt parlamentarischer Demokratie – längst eine Agentur der Produktionsordnung geworden ist und auch ganz offen in seinen Geschäften nach ökonomischen Kalkül gehandelt wird. Und so ist die Inkompetenz auch keine politische Unfähigkeit, sondern eben ein falsches Management; Kompetenz heißt im Prinzip nur, eine Legislaturperiode zu überstehen, ohne dass die Inkompetenz allzu auffällig wird, also die Amtszeit zu überstehen, ohne größeren Schaden anzurichten.

Nun zeigt sich einmal mehr an Jung, dem Militär­einsatz und den Versuchen der Schadensbegrenzung, dass das parlamentarische System von Ministern gescheitert ist und mit Demokratie im positiv wörtlichen Sinne nicht viel zu tun hat. So ist es überhaupt nur möglich ist, dass im Fall von Franz Josef Jung ein Verteidigungsminister Arbeits- und Sozialminister, im Fall von Guttenberg ein Wirtschafts- und Technologieminister schließlich Bundesverteidigungsminister wird. Hier handelt es sich um eine Sphäre des Staates, in der nicht mehr wirklich, im gouvernementalen Sinne des Wortes, regiert wird, eine Sphäre, die – ähnlich der »Vortex« genannten Zone in dem Film »Zardoz« – von den konkreten Lebensbereichen abgetrennt ist, die die Menschen irgendwie als »Gesellschaft«, »Staat« oder »Politik« erfahren.
Woher wissen wir eigentlich, die wir in der Banalität des Alltags gefangen sind, von »den Politikern«, vom »Staat«, von »der Regierung«? Gibt es Beweise der Existenz? Die Evidenz findet sich in Berlin und kann zu geregelten Öffnungszeiten wie ein Museum besucht werden; hingegen bleibt die Verantwortlichkeit eines Verteidigungsministers für einen Militäreinsatz und dessen Folgen ebenso abstrakt und un(be)greifbar wie Entscheidungen des Arbeits- und Sozialministeriums über das Schicksal des Einzelnen. Gleichwohl ist man im Alltag ebenso mit der Inkompetenz des Staates konfrontiert und bekommt es auch allenthalben vorgeführt. Ausgerechnet vor allem das Privatfernsehen demonstriert an Polizisten, Richtern und sonstigen Staatsbeamten die zwar konsequente, aber dennoch inkonsistente, in ihrem zur Schau gestellten Kompetenzmangel mitunter willkürliche Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. Auch auf dieser Ebene scheint wichtig zu sein, dass man – bis auf eine zur Phrase geronnene Ideologie der Demokratie – die Politik und das Regieren aus den dargestellten Szenen gänzlich heraushält.
Die Leninsche Direktive, dass jede Köchin den Staat lenken können sollte, ist mitnichten so zu verstehen, als sollte jeder Idiot regieren dürfen. Ganz im Gegenteil: Das Staatswesen ist deshalb so einfach wie möglich einzurichten, damit die wirklich wichtigen und lebendige, lustvolle Aufmerksamkeit benötigenden Arbeiten wie etwa Kochen eben nicht vernachlässigt werden. Nicht dass selbst eine Köchin diesen Staat regiere, ist die Pointe, sondern dass in einem solchen Staat überhaupt erst das Essen schmecken würde: Denn wo alle regieren, werden sich auch alle auf das Wichtige konzentrieren können. Und noch etwas: Lenin hatte den Staat, der aufgehoben werden sollte, seinerzeit erst noch zu verwirklichen. Auch dafür musste sich überhaupt erst einmal eine Idee der Demokratie etablieren, die das Staatsgeschäft nicht auf Einzelne beschränkt, seien es Köchinnen oder Freiherren. Das so einzurichten, ist welthistorisch gescheitert – im Realsozialismus als Tragödie und im Realkapitalismus als Farce. Insofern ist die Abschaffung des Staates, die sich gegenwärtig vollzieht, eine falsche.